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Missbrauch und familiärer BruchTochter von Gisèle Pelicot verarbeitet das Trauma ihrer Eltern in einem Buch

Lesezeit 5 Minuten
Caroline Darian hat ein Buch über ihre Familientragödie geschrieben.

Caroline Darian hat ein Buch über ihre Familientragödie geschrieben.

Caroline Darian, die Tochter von Gisèle Pelicot, hat ein Buch über ihre grausame Familiengeschichte geschrieben.

Es ist ein Buch, wie es der Aufarbeitung eines solchen Verbrechens wohl nur entsprechen kann: Am Ende hat man vieles erfahren und nichts verstanden. Wie könnte es auch anders sein? Verstörend genug ist dieser Tragödie. Die Skrupellosigkeit, mit der ein Mann über Jahre hinweg den Missbrauch seiner Frau plante und vollzog, minuziös darauf achtend, keine Spuren zu hinterlassen, erinnert an Josef Fritzl, der seine Tochter über zwanzig Jahre lang in einen Keller sperrte und als „Monster von Amstetten“ in die Geschichte einging.

Eine solche Person aber in Einklang zu bringen mit dem jovialen Mann, den seine Kinder und Enkel liebten, der in seiner Frau eine Weggefährtin hatte, seitdem sie beide 18 Jahre alt gewesen waren – das übersteigt vollends den Verstand.

Winterkleidung für den Peiniger

So ist Caroline Darians „Und ich werde dich nie wieder Papa nennen“ in erster Linie der Versuch der Tochter eines Täters, Erlebnisse, Eindrücke und mit Entsetzen zur Kenntnis Genommenes zu sortieren: „Mein Schreiben, was auch immer es wert sein mag, ist ein Weg. Es hat seinen Sinn: mich von meinem Vater zu lösen, meine Schulter von der Last des Erbes zu befreien.“

Wer sich als außenstehende Person an die Lektüre wagt, entwickelt ein Gefühl von peinlicher Beklommenheit. Der natürliche Anstand verbietet es, solch entwürdigende Details aus den Schlafzimmern einer fremden Familie erfahren zu wollen. Verbietet es, wissen zu wollen, dass eine Frau, der im Rentenalter noch so viel Leid widerfahren ist wie Gisèle Pelicot, sich auf den Weg zum Gefängnis macht, nachdem Polizisten ihr wochenlang eine grauenhafte Enthüllung nach der nächsten unterbreiteten, um ihrem Peiniger warme Winterkleidung zu bringen. Warum übernimmt sie diese fürsorgliche Handlung, die aus dem früheren Freundeskreis alle ablehnten? Ein Rätsel, auch für die Tochter.

„Familiärer Schiffbruch“

Offen schildert Caroline Darian, dass die unterschiedlichen Arten der Auseinandersetzung mit jener Situation, die sie „familiären Schiffbruch“ nennt, auch die verbliebene Familie anfangs ein Stück weit entzweit: hier sie mit einem der Brüder, dort der andere Bruder mit der Mutter, die ihrem Empfinden nach zu viele Dinge einfach negiert: „Ich fasse es nicht. Sie sorgt für das Wohlergehen des Mannes, der sie zehn Jahre lang vergewaltigt hat.“

So verrät das Werk, das sich tagebuchartig den ersten dreizehn Monaten nach Entdeckung der Taten widmet, dass auch Gisèle Pelicot erst zu der ikonischen Kämpferin werden musste, als die sie 2024 während der Gerichtsverhandlungen auftrat.

Frieden zunichtegemacht

Zwar würdigt Darian vom Vorwort an und im Verlauf der Schilderungen immer wieder die Stärke ihrer Mutter, macht aber auch sichtbar, dass es Differenzen gab. Wie es geschmerzt habe, als die Mutter bezweifelte, was Bilder deutlich zeigten: Auch die Tochter wurde Opfer der Perversität ihres Vaters, wenn auch auf weniger drastische Weise.

Immer wieder ist der Haupttext durchbrochen von Sequenzen, in denen Caroline Darian ihren Vater direkt anspricht, in denen sie Kindheitserinnerungen schildert von sonnigen Tagen, die nun alle zur Illusion geworden sind, und in denen sie anklagt: „Ich hatte Frieden, du hast ihn zunichtegemacht.“

Viele Selbstvorwürfe

Indem sie, Mutter eines Jungen, der zum Zeitpunkt der Enthüllungen gerade die Grundschule besucht, versucht, von diesem doppelten Boden aus Lüge und finsterster Wahrheit, das Leben neu zu verstehen, setzt sie sich mit dem Netz aus Lügen und Manipulation auseinander, in dem sie aufgewachsen ist.

Auf der einen Seite gibt es da eine Scheidung der Eltern aus finanziellen Gründen, wiederkehrende Geldsorgen, einen Gerichtsvollzieher, der selbst Erbstücke aus der Familie der Mutter entfernt, um die Schulden des zahlungssäumigen Vaters zu kompensieren, einen Vater, der sich an den Ferienersparnissen seiner jugendlichen Tochter bedient und dem sie doch selbst als Erwachsene nicht nein sagen kann, als er sich Geld von ihr erschnorrt. Auf der anderen Seite: die Wiederheirat der Eltern, fröhliche gemeinsame Urlaube, Vertrauen, das Haus mit Garten und Pool. Und immer wieder die quälende Frage: „Wie konnte ich nur dermaßen leichtgläubig sein?“

Fachleute haben nichts gemerkt

Ohne anzuprangern, zählt sie auch die Fachleute auf, die ebenfalls nichts gemerkt haben: Zwei Neurologen, einen Hausarzt, einen Gynäkologen, die die Mutter wegen altersuntypischer Beschwerden und Gedächtnisverluste aufsuchte, fanden keine echte Erklärung, sprachen von Überlastung. Auf die Idee, ein toxikologisches Gutachten zu erstellen, kam niemand – sonst hätte die Sedierung, im Buch als „chemische Unterwerfung“ bezeichnet, viel früher aufgedeckt werden können.

Darin, für diese Problematik mehr Aufmerksamkeit zu schaffen, liegt eine der Motivationen für Caroline Darians Engagement, denn: „Diese Methode ist die bevorzugte Waffe der Sexualverbrecher.“ Nicht nur K.-o.-Tropfen würden dazugehören, sondern eine Vielzahl an teils ganz legalen Medikamenten mit betäubender Wirkung.

Kampf für andere Opfer

Dass Erinnerungen durch solche Vergiftungen fast oder völlig im Nebel versinken, erhöhe noch das Schamgefühl und die Selbstzweifel der Opfer, skizziert Caroline Darian, die inzwischen einen Verein gegründet hat: „#MendorsPas: Stop à la soumission chimique“ – auf Deutsch in etwa: „Ich schlafe nicht ein – Schluss mit der chemischen Unterwerfung“.

Caroline Darian: Und ich werde dich nie wieder Papa nennen. Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Grit Weiraum. Kiepenheuer & Witsch, 224 S., 22 Euro. Die Lit.Cologne-Lesung am 17. März, 20 Uhr im WDR Funkhaus ist ausverkauft.