Theaterpremiere „Früchte des Zorns“ in KölnIn der Einsamkeit der Corona-Pandemie
Köln – „Da kann ich wenigstens mit Leuten verhungern, die ich kenne. Und nicht mit solchen, die einen hassen.“ Der Zynismus des Rückkehrers kann die Joads nicht aufhalten. Sie haben Hab und Gut, Kind und Kegel auf einen Laster verfrachtet, lassen das nicht mehr heimische Oklahoma hinter sich, um in Kalifornien neu anzufangen. Umdrehen ist keine Option: Ihr Land gehört jetzt der Bank, das Haus wurde bei einem „Unfall“ von einem Traktor zerstört. Und all die Nachbarn, mit denen sie „gemeinsam verhungern“ könnten, sind ebenfalls auf dem Treck gen Westen, ins gelobte Land, wo Orangen und Trauben wachsen.
John Steinbecks pulitzerpreisgekrönter Roman „Früchte des Zorns“ (1939) erzählt die Geschichte dieser Suche nach dem besseren Leben, die für alle Beteiligten tragisch endet. Im Schauspiel Köln bringen Hausregisseur Raphael Sanchez und der Autor Petschinka die Fluchtgeschichte beherzt bearbeitet, aber dankenswerterweise ohne aktuelle Bezüge, nicht nur auf die Bühne des Depot 2, sondern von dort als Live-Stream (Bildregie: Nazgol Emami) auf den heimischen Bildschirm.
Und das Video muss als nicht situationsbedingte Notlösung herhalten, es wird von Anfang mitgedacht – so stark, dass man sich fragt, ob die Inszenierung später als reine Bühnenfassung funktionieren kann. Szenen spielen vorm Depot, hinter der Bühne oder unter der jetzt leeren Zuschauertribüne. Und dennoch wird keinen Moment lang so getan, als versuche man einen Film zu drehen. Das Resultat ist ein gelungener Hybrid.
Corona-Regeln wirken erschwerend
Doch Corona hat erschwert die Arbeit des exzellenten Ensembles. Auf ihrer strapaziösen Reise müssen die Joads nicht nur bildlich aneinanderrücken, sie fahren eng gepfercht auf einem schrottreifen Laster, leben in überfüllten Lagern. Im Depot wahren die Schauspieler die vorgeschriebenen 1,50 Meter Abstand – und spielen so oft weniger mit- denn nebeneinander. Während sie bei Steinbeck erst nach und nach zu Einzelkämpfern erwachsen, der Familienverband sich erst im Laufe der Reise auflöst, regiert im Depot dank der Covid-Regeln die Einsamkeit von Beginn an. Und so wird auch diese behördliche Vorgabe zum Kunstgriff.
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Am stärksten bei Katharina Schmalenbergs „Ma“, als Mutter des Clans hält sie den Laden zusammen, bis auch ihr Pragmatismus von Sorgen und Realität ertränkt wird. Sie hatte sich gegen ihren früh resignierenden Ehemann (Stefko Hanushevsky) zur Wehr gesetzt, hatte der nörgelnden Großmutter (Margot Gödrös) Paroli geboten. Ihren Kindern, Al (Justus Maier) und der schwangeren Rose (Kristin Steffen) sowie Schwiegersohn Connie (Elias Reichert), widmet sie sich bodenständig. Allein dem in dieser Fassung ältesten Sohn Tom – Petschinka hat drei der sechs Kinder gestrichen – begegnet sie mit Liebe: Auch wenn er vier Jahre wegen Totschlags gesessen hat, sie stand immer zu ihm.
Auf einen Blick
Das StückDie 80 Jahre Geschichte von Menschen, die vor dem Elend fliehen, besitzt nach wie vor Gültigkeit.
Die Inszenierung
Raphael Sanchez präsentiert nicht nur abgefilmtes Theater, sondern setzt filmische Techniken sinnvoll ein.
Das Ensemble
Ohne Wenn und Aber eine starke Teamleistung. (HLL)
Seán McDonagh spielt diesen Ex-Häftling linkisch, als einen Mann, der zwar im Gefängnis die sprichwörtliche Faust in der Tasche gemacht hat, diese aber in Freiheit schnell sprechen lässt. Als Tom sich streikenden Arbeitern anschließt, um gegen die verheerenden Löhne der Großgrundbesitzer zu protestieren, bleibt nicht offen, ob, sondern höchstens wie schnell er wieder im Gefängnis landet.
In Steinbecks Roman wechseln die Szenen der Familie Joad mit Kapiteln, in denen der Autor das Geschehen in einen gesellschaftlichen, von seiner sozialistisch-kommunistischen Sicht geprägten Zusammenhang stellt. Sanchez lässt diese Passagen vom einmal mehr brillanten Martin Reinke erzählen, passend dazu steht dieser als der ehemalige Prediger Casy den Joads mit Rat und Tat zur Seite.
Doch das Finale bestreiten die tapferen Frauen: Nachdem Rose ihr Baby verloren hat und das behelfsmäßige Zuhause von den Winterregen überflutet wurde, findet sie mit ihren Eltern Zuflucht in einer Scheune. Dort haben auch ein Junge und sein verhungernder Vater Unterschlupf gefunden. In einem Akt der Menschlichkeit weist die Mutter Rose an, dem älteren Mann die Brust zu geben. Und durch die Großaufnahme kommen wir Zuschauer Kristin Steffens Mater Dolorosa so viel näher, als säßen wir in Reihe 10. Und nach diesem Bild vermisst man auch den Premierenapplaus nicht.
145 Minuten. Keine weitere Streaming-Termine geplant.