Sasha Waltz & Guests mit Stefan Kaegi vom Kollektiv Rimini Protokoll im Depot 1.
TanzgastspielSelbstreflexion mit Sitzboogie im Depot 1
Der Vorhang öffnet sich und die Bühne ist leer. Sie wird es bleiben bis zum Schlussapplaus. Auf der Bühne im Depot 1 steht auf voller Breite ein Spiegel, in dem sich das Publikum betrachtet, betrachten muss. Dezenter Ambient-Klang untermalt gesprochene Worte. Wo sitze ich in diesem Spiegelbild und wie sehe ich aus?
Projekt als Kopfsache
Das ist intuitiv die erste Frage an dieses Szenario. Manche Zuschauer winken. „Spielgelneuronen“ als Tanzgastspiel im Depot 1 des Schauspiel Köln ist ein soziales Experiment. Die Tanzkompanie Sasha Waltz & Guests und der Schweizer Theatermacher Stefan Kaegi aus dem Kollektiv Rimini Protokoll haben es zur Uraufführung bei den Salzburger Festspielen im Sommer 2024 erarbeitet, nun tourt es.
Das ist leicht, denn das Projekt ist, wie der Titel inkludiert, vor allem Kopfsache. Es thematisiert das Verhältnis und Verhalten des Einzelnen zu einer Gruppe, völlig spielerisch und intuitiv als partizipative Bewegungsinstallation und als zeitgleicher Kontrast komplett unsubtil mit zugespielten Texten in deutscher und englischer Sprache (Dramaturgie: Silka Bake).
Luftballons über den Köpfen
Tänzer und Tänzerinnen von Sasha Waltz & Guests sitzen im Publikum und beginnen mit Bewegungen und Bewegungsabläufen vor allem der Hände und Arme, die leicht nachzuahmen sind. „Mirroring“, das unbewusste Nachahmen von Gesten und Haltungen eines Gegenübers, so die Zuspielung, sei etwas zutiefst Menschliches, und weiter: „Einfach nur da sein ist schwierig“. Also zeige der Mensch gerne, dass er da ist. Wer nun anfangs gewunken hat, darf sich ertappt fühlen. Oder verstanden. Oder gespiegelt.
Ein wenig Raum für Interpretation und Selbstreflexion bleibt. Beobachten, Nachahmen, Gegensteuern, Verweigern und Zuhören, was Experten und Expertinnen für Psychologie, kollektive Intelligenz und Neurowissenschaften dazu sagen – das Konzept bleibt die rund 80 Minuten über bestehen.
Luftballons werden über Köpfe gespielt, einzelne Gruppen angestrahlt (Licht: Martin Hauck), Bewegungen erweitern sich zu Berührungen, die elektronische Musik (Tobias Koch) bekommt und verliert Rhythmus, Handys dürfen leuchten und glimmen. Das insgesamt ist poetisch, hübsch anzusehen und macht Spaß, wäre aber minus der einordnenden Expertenzitate auch nur Sitzboogie de luxe oder Publikumsspiel wie im Fußballstadion. Wer nicht mitmachen mag, fühlt sich, wie wenn ihm bei der Firmenweihnachtsfeier der Tischzauberer ein Tuch aus dem Ohr zieht – und ist dennoch Teil des Kollektivs.
Tänzer im Publikum setzen Impulse
Erst gegen Ende, wenn die sieben Tänzer und Tänzerinnen in Zeitlupe über die Lehnen des Auditoriums klettern, wird klar, von wem genau die Bewegungsimpulse der Produktion ausgingen. Die angeregten Gespräche mit Sitznachbarn und im Foyer zeigen dann, dass die Gruppen-Performance doch mehr war als La-Ola-Spiel. Selbstreflexion findet eben nicht nur im Spiegel, sondern im Kopf statt – mit Zeitverzug.