Serie über das Kölner RJM (2)Ein Löffel für die „Alemana“ – Unterwegs in Mexiko
- Sie reisen um die Welt, um Geschichten und Bilder zu sammeln: Feldforschung ist für Ethnologen Bestandteil der Ausbildung – und auch immer eine wichtige Station in ihrem Leben.
- In unserer Serie berichten Mitarbeiter des Rautenstrauch-Joest-Museums hiervon.
- Heute erzählt die Amerika-Kuratorin Anne Slenczka Hans-Willi Hermans von ihren Aufenthalten in Mexiko.
Köln – So eine Feuerbrunst kann auch ihr Gutes haben. Trotz der Waldbrände in der Umgebung hatten die Bewohner von Agua Zarca nicht auf das große Feuerwerk als Krönung ihres Dorffests verzichten wollen. Prompt setzte der Funkenflug eine benachbarte, knochentrockene Wiese in Brand. Der Tumult war groß, aufgrund der vielen Gastanks in den umliegenden Häusern war die Situation – nun ja – brandgefährlich.
„Im Ort wurde mir berichtet, dass viele Männer in dieser Region Mexikos das Haus oft nur mit Pistole verlassen. Aber weil sie vom Löschen so erschöpft waren, gab es in diesem Jahr auf dem Fest ausnahmsweise mal keine Schussverletzungen oder gar Toten“, erzählt Anne Slenczka.
Die heutige Amerika-Kuratorin des Rautenstrauch-Joest-Museums (RJM) war Zeugin dieses Zwischenfalls, als sie 1998 drei Monate lang in dem kleinen Dorf im Bundesstaat Querétaro nördlich von Mexico-Stadt Material für ihre Dissertation mit dem Titel „Lokale Musealisierung als Identitätsstrategie in Mexiko“ sammelte.
Keine schlechten Erfahrungen unter „Machos“
Es sollte zum Abgleich mit Feldforschungserkenntnissen dienen, die sie im Jahr zuvor gewonnen hatte. Damals hatte sie sechs Monate im Dorf Santa María Yucuhiti im südlicheren Bundesstaat Oaxaca gelebt, dessen Bevölkerung größtenteils der indigenen Gruppe der Mixteken angehört, und wo Pistolen an Männergürteln eher ungewöhnlich sind.
Wie kommt man als Frau, die bislang nur in Städten gelebt hatte, allein in abgelegenen mexikanischen Dörfern zurecht, in einer Gesellschaft, die einen sehr Macho-mäßigen Ruf hat? „Bis auf einen einzigen unangenehmen Zwischenfall habe ich nur gute Erfahrungen gemacht. Einmal habe ich sogar einen formvollendeten Heiratsantrag erhalten“, berichtet Slenczka. Was nicht bedeutet, dass alles ganz reibungslos abgelaufen wäre: „Jede Feldforschung bietet zahlreiche Gelegenheiten für Missverständnisse, die am besten durch Zuhören, Geduld und oft auch Humor aufgelöst werden.“
Schon Anfang der 1990er Jahre absolvierte die Altamerikanistin und Ethnologin, die an der Universität Hamburg studiert hat, ein Berufspraktikum im Museum des Haupttempels der Azteken in Mexiko-Stadt, nutzte anschließend die Gelegenheit zu einer Fortbildung in Ausstellungsgestaltung. Dazu gehörte eine Exkursion zu indigenen Community-Museen im Bundesstaat Oaxaca: „Damals wusste ich gleich: Das ist das Thema meiner Doktorarbeit“, erinnert sie sich.
Landkarte als Prunkstück der Sammlung
Zentral für ihre Wahl Santa María Yucuhitis mit seinen 400 Einwohnern war das Prunkstück des bereits 1992 eröffneten Museums: eine riesige handgemalte Landkarte aus dem 18. Jahrhundert. Seit der spanischen Kolonialzeit bis in die 1940er Jahre hinein war sie ein wichtiges Beweismittel in harten Landkonflikten und der ganze Stolz des Ortes. Spannend war auch, dass sich die übrigen acht Dörfer des rund 6500 Einwohner zählenden „Municipios“ von Yucuhiti auf sehr unterschiedliche Weise am Museumsprojekt im Hauptort beteiligt hatten. „Ein Dorf wollte eigentlich ein eigenes Museum planen und versuchte, lokale Leihgaben auf dieses umzulenken.“
Als Slenczka dann 1997 just zu einem großen Dorffest in Yucuhiti ankam, wurde sie gastfreundlich empfangen. Im überfüllten Häuschen des Organisators servierte man ihr die Suppe vorsorglich mit den Worten: „Und ein Löffel für die Alemana“. Die Besucherin aus Deutschland musste schließlich erst lernen, wie man eine Maistortilla als Suppenlöffel benutzt.
Sie knüpfte erste Kontakte auf Spanisch, das sie fließend spricht, aber auch auf Mixtekisch – letzteres mit Hilfe einer Übersetzerin. Denn sie wollte ein möglichst breites Bild gewinnen, herausfinden, welche Wünsche und Hoffnungen mit der Entstehung des Museums und der Auswahl seiner Themen und Objekte verbunden waren.
Die Initiatoren des Museums waren vor allem engagierte Lehrer gewesen, die während ihres Studiums außerhalb von Yucuhiti einen neuen Blick auf ihre kulturelle Identität gewonnen hatten. Sie wollten zusammen mit den Alten und den Weberinnen die Geschichte des widerständigen Yucuhiti, seine archäologischen Funde und sein Kunsthandwerk dokumentieren. „Besonders faszinierend fand ich, wie sehr sich die Bedeutung eines Objekts im Laufe seiner Geschichte wandeln kann“, erklärt Slenczka. „Zu einer Vitrine im Museum von Agua Zarca beispielsweise fiel einer Besucherin eine Geschichte aus der Bibel ein – obwohl die Objekte darin aus vorspanischer Zeit stammten.“
Gemeinsam einen Hurrikan überstanden
Gespräche, Geschichten – für Anne Slenczka eine wichtige Forschungsmethode, bei der sich „Arbeit“ und „Freizeit“ oft überschnitten. So manches interessante Detail erfuhr sie eher zufällig im Verlauf von Plaudereien beim Dorftanz oder auf dem Marktplatz. Den Kontakt zu Freunden und Familien habe sie natürlich vermisst, denn Yucuhiti ist schon sehr abgelegen. Während der Regenzeit dauerte die Fahrt in die nächste größere Provinzstadt Tlaxiaco auf der Ladefläche eines Pick-Ups knapp vier Stunden. Und 1997 gab es im Ort ein einziges Telefon, solarbetrieben, über das Slenczka Emails nur bei Sonnenschein versenden konnte. „Aber auch dort wurde ich mit der Zeit ganz von selbst Teil einer Gemeinschaft.“
Schließlich kam sie mit den Yucuhitenses nicht nur intensiv ins Gespräch, sondern überstand zusammen mit ihnen auch einen Hurrikan, der zum Glück glimpflich mit Stromausfall und abgedeckten Dächern endete. „Als ich dann wieder in die 20-Millionenstadt Mexiko – und viel später nach Hamburg – zurückgekehrt war, erwischte mich eine unerwartete Sehnsucht: Das Gefühl von Wärme und Zugehörigkeit in Yucuhiti fehlte mir sehr.“
Viel zu oft Tortillas
Eine besondere Herausforderung stellte das Essen für Anne Slenczka dar. Auf dem Speisezettel standen meistens Teller-große Maistortillas mit Bohnen, Fleisch und scharfer Soße. Im Unterschied zu anderen Regionen Mexikos, wo sie zuvor auch Heuschrecken und Agavenwürmer probiert hatte, war das Essen selbst jedoch nicht die Hürde: „Selten habe ich so köstliche handgemachte Tortillas gegessen wie in Santa María Yucuhiti, und die stets frischen Bohnen waren ein Hochgenuss“, erzählt die Forscherin. Nur die von ihr so empfundene Monotonie und das Fehlen von Gemüse habe ihr schwer zu schaffen gemacht.
Für ihre heutige Tätigkeit seien ihre Forschungsergebnisse und Erfahrungen aus Santa Maria Yucuhiti äußerst wertvoll, meint Dr. Anne Slenczka. Die Chance, ein indigenes Community-Museum von Grund auf kennenlernen zu dürfen, ist eine gute Basis für die Arbeit mit der Amerikas-Sammlung und ihren Herkunfts-Communities im RJM. Dort entdeckte sie Jahre später hocherfreut ein „Stück Yucuhiti“ wieder: „Tenate“-Körbe für den Transport großer Maistortilla-Stapel, die vor fast einem halben Jahrhundert in Tlaxiaco erworben wurden. „1997 hingen solche Körbe auch im Museum von Yucuhiti, waren aber gleichzeitig Teil einer lebendigen Alltagskultur.“ Und Gegenstand lokaler Legendenbildung. So erzählten junge Männer, sie hätten auf dem Markt von Tlaxiaco Señores gesehen, die allein einen ganzen Tenate voller Tortillas verdrückten. „Ein ganzer Tenate: Das wären immerhin 50 Stück.“