Serie über das Kölner RJM (1)Was „Mr. Papaya“ als Feldforscher in der Südsee erlebte
- Sie reisen um die Welt, um Geschichten und Bilder zu sammeln: Feldforschung ist für Ethnologen Bestandteil der Ausbildung – und auch immer eine wichtige Station in ihrem Leben.
- In unserer Serie berichten Mitarbeiter des Rautenstrauch-Joest-Museums hiervon.
- Oliver Lueb, der stellvertretende Direktor, erzählt Axel Hill von seinen Erlebnissen auf der Salomonen-Insel Santa Cruz.
Köln – „Und ich dachte, jetzt bin ich echt in Gefahr! Allein, als Fremder, unter Hunderten auf einem großen Fest. Plötzlich wurde es still, alle guckten, was passiert...“ Passiert ist Oliver Lueb an diesem Abend auf der Salomonen-Insel Santa Cruz nichts. Aber die Aktion eines angetrunkenen Mannes begleitete ihn noch länger.
Der heute stellvertretende Direktor des Rautenstrauch-Joest-Museums war 2011 auf die kleine Insel gekommen, um sich mit Tanzkleidung und -schmuck zu beschäftigen. Kurz nach seiner Ankunft hatte einer seiner Kontaktmänner ein rituelles Fest als Erinnerung an dessen Vater veranstaltet. „Ich konnte das alles begleiten, durfte fotografieren und filmen – auch in Privathäusern bekam ich Dinge zu sehen, die vermeintlich für Fremde nicht zugänglich waren“, erzählt Lueb.
Ein entfernter Cousin des Organisators aber dachte, dass der deutsche Ethnologe dafür sehr viel Geld bezahlt habe. „Auf dem Fest kam es dann zum Knall, er kam auf mich zu, riss mir meine Kamera aus der Hand. Seine Frau musste ihn von mir wegziehen...“ Und so passierte, was eigentlich nicht geschehen sollte: „Als Feldforscher wollte ich teilnehmender Beobachter sein – nun war ich Mittelpunkt eines schwelenden Familienkonflikts.“ In einer Anhörung der Dorfältesten und Lueb wurde später geklärt, dass der Mann dem Ethnologen nicht mehr zu nahe kommen dürfe.
„Und dass alle nun darauf achten würden, dass er das einhalte. In den Monaten danach passierte es immer wieder, dass Leute sich bei mir für diesen Vorfall entschuldigten.“
Erlebtes in Gesang umgewandelt
Doch Lueb wurde noch auf eine andere Weise Teil der Kultur. Die Tänze, die er untersuchte, sind „eine Kompensationsleistung gegenüber den Gottheiten, Geistwesen oder Ahnen – als Bitte oder Danksagung.“ In den begleitenden Gesängen werden auch aktuelle Ereignisse aufgegriffen. „Das ist Teil der oralen Tradition, mit der Geschichtserzählung fortgeführt wird. Auch über ,meinen Vorfall’ gibt es zwei oder drei Gesänge, die bei einem späteren Fest aufgeführt wurden.“
Die Inselgruppe lernte Oliver Lueb kennen, als er auf Kreuzfahrten Vorträge zur Ethnologie der Region hielt. „Auf der zweiten oder dritten Reise war ich auf dieser Insel und stellte fest, dass die Kleidung bei den Tänzen so unglaublich anders war als auf anderen Inseln. Sie sah aus, als hätte ich sie aus dem Museum herausgenommen.“
Im wahrsten Sinne des Wortes: Denn der Grundstock der Sammlung des Rautenstrauch-Joest-Museums besteht aus Artefakten, die Wilhelm Joest zusammengetragen hatte. Seine Südseereise führte ihn 1897 nach Santa Cruz, wo er an Schwarzfieber starb. Lueb brachte zu seiner Feldforschung Fotos aus der Sammlung mit und besprach sie mit den Tänzern und Produzenten. Während auf Nachbarinseln auch importierte Materialien und künstliche Farben verwendet wurden, waren hier etwa Tanzschürzen aus Bananenbast gewebt, Schmuckstücke aus natürlichen Materialien hergestellt.
Feldforschung
Ein Ethnologe unternimmt eine Feldforschung, um eine Kultur wissenschaftlich zu erkunden. Dies geschieht meist durch eine teilnehmende Beobachtung des Alltags und führt oft, wie auch im Fall von Oliver Lueb, zu einer Doktorarbeit.
Der Titel lautet „Die Macht der Artefakte – Tanzkleidung und -schmuck auf Santa Cruz, Salomonen“, sie kann kostenlos im Internet herunterladen werden. (HLL)
Der Staat hatte ab den 1990er Jahren eine kulturelle Revitalisierungskampagne gestartet, mit dem Ziel einer Identitätsbildung innerhalb des Vielvölkerstaates, der erst seit 1978 unabhängig war.
Für die Insel Santa Cruz kam hinzu, dass einer der Priester der Insel in Neuseeland erlebt hatte, „wie Maori sich durch die Resonanz einer großen Ausstellung in New York bewusst wurden, dass es wichtig war, Sprache und kulturelles Wissen zu erhalten. Mit dieser Erfahrung kam er zurück, und sagte seinen Leuten ,Vergesst das Plastik hier. Besinnt Euch wieder auf Eure traditionellen Materialien!’“
Zeit der Feldforschung war nicht immer leicht
Und es stellte sich ein unerwarteter Erfolg ein: „Durch die Revitalisierung haben sie etwas gelebt, was plötzlich für andere attraktiv wurde: Deswegen fahren Touristenschiffe heute die Insel an und zahlen Landegebühren.“ Eine finanzielle Bestätigung der kulturellen Wiederbelebung. Und die Tanzgruppe, die Lueb schon 2010 kennengelernt hatte, trat 2012 als Vertreterin ihrer Provinz beim internationalen Festival of Pacific Arts auf. Und 2014 repräsentierte sie beim Melanesian Arts & Cultural Festival in Papua Neuguinea sogar ihr Heimatland.
Bei allem wissenschaftlichen Erfolg und großartigen menschlichen Erlebnissen, die Zeit der Feldforschung war für Oliver Lueb nicht immer einfach. Bei einer Vorstudie 2010 hatte er noch mit Einsamkeit zu kämpfen, und ein Malariamittel genommen, von dem man auch depressiv werden kann.
„Da war ich wirklich schlecht drauf.“ Ablenkung? Fehlanzeige. „Das einzige Event am Wochenende war die Messe.“ Das lief beim nächsten Aufenthalt besser, viele kannten ihn mittlerweile, vertrauten ihm, nahmen ihn herzlich auf, luden ihn zum Essen ein.Denn das war eines der größten Probleme: Ohne klassische Lebensmittelgeschäfte war es schwer, sich selber zu versorgen – vor allem mit Eiweiß und Gemüse. „Es gab kaum Fleisch, Eier oder kleine Fische – und ein Thunfisch für mich allein war zu viel.“ Und so aß er häufig „Süßkartoffeln mit Reis – oder Reis mit Süßkartoffeln.“ Und Obst: „Mein Spitzname: Mr. Papaya!“
Zurück in Deutschland fiel Oliver Lueb erst einmal in ein tiefes Loch. „Ich kam vor Weihnachten an, war von der Warenflut überfordert. Wenn ich auf Feiern saß, dachte ich, worüber unterhalten die Leute sich, wisst ihr eigentlich, was wirkliche Probleme sind? Und ich wurde wie ein Alien betrachtet.“
Zu verstehen, wie und warum man sich verändert habe, konnten in erster Linie Kollegen nachvollziehen. „Ich halte die Erfahrung einer Feldforschung für Arbeit mit ethnologischen Sammlungen für eine absolut wichtige Grundvoraussetzung. Denn der Umgang mit den Dingen ist danach ein ganz anderer als vorher. Ich zum Beispiel habe selbst erlebt, dass das, was wir ausstellen, keine toten Gegenstände sind!“
Hier ist Oliver Lueb ein Teil der Familie
„Ena und ich haben entschieden, dass wir Oliver adoptieren. Er ist ab heute unser Sohn und darf uns Mum und Dad nennen.“ (Foto) Diese Ankündigung von Steven Mdewöt in einer großen Familiensitzung, zu der Oliver Lueb eingeladen war, erwischte ihn kalt. Seine erste innere Reaktion: „Um Himmels willen, ich bin doch unabhängiger Wissenschaftler, das darf nicht sein.“ Seiner Arbeit schadete diese Form der Aufnahme jedoch nicht.
Und als Oliver Lueb Anfang 2019 wieder dort war, erklärte ihn Selwyn Balu zu seinem Bruder. Balu gilt als der letzte bekannte Weber Santa Cruz’ und ist bis heute einer von Luebs wichtigsten Gewährsleuten. (HLL)