Der Song „Sigma Boy“ (Сигма Бой) trendet, auch Dank eines deutschen Influencers. Kritiker sehen ein gefährliches Männerbild gefördert.
Russischer Hit„Sigma Boy“ – Pop oder Propaganda?
Der russische Dance-Pop-Song „Sigma Boy“ (Сигма Бой) klingt, wie Dance-Pop-Songs im besten Fall eben klingen: ziemlich eingängig.Doch die Eingängigkeit alleine erklärt den Erfolg des Liedes noch nicht - erst recht nicht in Zeiten des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine.
Beim Eurovision Song Contest (ESC) darf Russland seit 2022 nicht mehr teilnehmen, russische Künstler und Künslterinnen wurden seitdem immer wieder von Veranstaltungen ausgeladen. Wer sich gegen den Krieg ausspricht, wie der populäre Rapper Oxxxymiron, wird von Wladimir Putin zum Feind erklärt. Für russische Kultur ist es dieser Tage also nicht leicht, Aufmerksamkeit außerhalb der Landesgrenzen zu bekommen. Dem Song „Sigma Boy“ ist genau das gelungen.
Russischer Song „Sigma Boy“ trendet dank deutschem Iunfluecner Simon Both
Ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Stückes ist der deutsche Influencer Simon Both alias Streichbruder. Seit 2023 bespielt der Jugendliche aus dem bayrischen Rosenheim TikTok und Instagram, zuerst mit Videos, die ihn beim Backflip, also dem Salto rückwärts zeigen.
Dann kam der Trend auf, bei dem Influencer in der Öffentlichkeit möglichst laut einen Song abspielen. Streichbruderwar mit einem mobilen Lautsprecher unterwegs. Den nutzte er, um als einer der Ersten „Sigma Boy“ abzuspielen. Jetzt ist der Lautsprecher immer dort, wo der 18-jährige Bayer ist: in New York und Barcelona oder vor dem Pariser Louvre, bei Begegnungen mit Rapper Ski Aggu, Heino, dem Saxofonisten André Schnura oder Erotikmodel Micaela Schäfer.
„Sigma Boy“, komponiert von Michail Tschertischtschew und gesungen von den russischen Bloggerinnen Betsy & Mascha Jankowskaja, entwickelte sich seitdem zum Hit. Auf Spotify hat der Song mittlerweile 75 Millionen Streams, wichtiger sind jedoch TikTok und Instagram. Auch, weil es Spotify in Russland nicht gibt. Auf YouTube beispielsweise hat das Video 120 Millionen Aufrufe. Nicht nur in den Trend-Charts, auch in den Billboard Hot Dance-Charts oder der britischen Hitparade fand sich der Song Anfang des Jahres 2025 wieder.
Mit dem Erfolg kam auch die Diskussion auf: Ist das Propaganda oder Pop?
Sigma-Mann: Ein Männlichkeitsbild der Incel-Bewegung
Betsy & Marija Jankowskaja würden in dem Song ein Männlichkeitsbild besingen, so der Vorwurf, das in den letzten Jahren in den sozialen Netzwerken Verbreitung gefunden hat. Denn der Titel des Stückes ist eine kaum zu leugnende Anlehnung an den Begriff Sigma-Mann (Sigma Male), der einen Mann beschreibt, der sich außerhalb von Konventionen bewegt, der erfolgreich ist, unabhängig und keine Anerkennung von Außen braucht. Das Gegenteil also eines sogenannten „Incel“. Dies ist ein Begriff, der sich aus den englischen Wörtern „involuntary“ (zu Deutsch „unfreiwillig“) und „celibate“ („sexuelle Enthaltsamkeit“) zusammensetzt. Die identitätsstiftende Selbstbezeichnung wird von jungen heterosexuellen Männern genutzt, die, die Schuld an ihrer fehlenden (sexuellen) Beziehungserfahrung der liberalen Gesellschaft im allgemeinen und dem Feminismus im Speziellen geben.
Eingeführt und ab 2010 benutzt hat den Begriff „Sigma“ der amerikanische Blogger Theodore Robert Beale. An der Spitze der Pyramide der verschiedenen Männlichkeitstypen steht demnach der Alpha-Mann, ein Begriff, der auch immer wieder beim deutschen Rapper Kollegah auftaucht. Ein Motivationsbuch des Düsseldorfers trägt den Titel „Das ist Alpha!“, Alben heißen „Alphagene“, das eigene Label „Alpha Empire Music“.
Ganz am Ende des Spektrums steht laut dieser Theorie der „Omega“-Mann, benannt nach dem letzten Buchstaben des griechischen Alphabets. Nur der Sigma-Mann nimmt eine Sonderstellung ein – selbstgewählt steht er außerhalb der Pyramide.
Ein lonesome Rider, ein Typus Mann, wie ihn Dirty Harry, Keanu Reeves als Neo in der „Matrix“-Trilogie oder Patrick Bateman, der stereotype Yuppie aus Bret Easton Ellis' Klassiker „American Psycho“ verkörpern, also. Vergleiche, die immer wieder fallen. Dieser Mann versprüht kalte Emotionen und fühlt sich anderen intellektuell überlegen. Ein Typ Mann, der in der „Manosphere“ gut ankommt, in der es sich vor allem um finanziellen und sexuellen Erfolg dreht.
„Manosphere“ bezeichnet eine lose, antifeministische und misogyne Community im digitalen Raum, die in Blogs, Internetforen und auf Social Media unterschiedliche Ziele, etwa hegemonialer Männlichkeit, das heißt ein Unterdrückungsverhältnis zwischen Frauen und Männern, Selbstoptimierung oder sexueller Dominanz gegenüber dem weiblichen Geschlecht, propagiert.
Für die Autorin und Journalistin Veronika Kracher ist der Trend um „Sigma Boy“ deswegen misogyn: „Die Geschlechterrollen sind massiv biologisiert. Frauen werden als untergeordnete Menschen begriffen“, so Kracher gegenüber dem „Stern“.
Die Sängerinnen des Songs „Sigma Boy“
Hinter dem Künstlerinnennamen Betsy verbirgt sich Swetlana Tschertischtschewa, die Tochter des Komponisten des Stückes. Sie soll gerade einmal 11 Jahre alt sein. Marija Jankowskaja ist mit vermutlich 12 Jahren kaum älter. Aktiv in der Musikbranche sind beide schon seit Jahren: Schon im Kindesalter ebnete Michail Tschertischtschew seiner Tochter Swetlana den Weg in die Musikbranche, auch Marija hat bereits in jungen Jahren Songs aufgenommen. Sie waren auf Tanz- und Schauspielschulen Teil von verschiedenen Projekten, sind in Videos zu sehen und seit Jahren ebenfalls auf Social Media aktiv, wie Matthias Schwarzer, Journalist beim Redaktionsnetzwerk Deutschland, recherchieren konnte.
Interessanter ist jedoch, wie der Song eingesetzt wird - und durch wen.
Gefördert wurde der Song in Russland massiv durch CTC Kids, an dessen Mutterkonzern die Nationale Mediengruppe Russlands schon seit 2018 Anteile hält. Die wiederum gehört der Putin-nahen Unternehmerin Alina Kabajewa, die seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine auf der Sanktionsliste unter anderem der EU, der Vereinigten Staaten und Großbritanniens steht. Auch eine ebenfalls sanktionierte russische Bank gehört zu den Anteilseignern, fand Schwarzer heraus.
„Sigma Boy“: Diese Medien stecken hinter dem Song
Erschienen ist „Sigma Boy“ beim Label Savage$tation. Das Unternehmen, zu dem die Plattenfirma gehört, sitzt in Dubai – Wohnort wohlhabender Russen, aber auch gern genutzte Adresse, um Sanktionen zu umgehen.
Doch um sanktionierte Unternehmen geht es nur am Rande.
Ist „Sigma Boy“ ein unpolitischer Song?
Komponist Michail Tschertischtschew will den Song nicht als Propaganda-Stück verstanden wissen, gibt sich unpolitisch. Er sei nur ein einfacher Komponist, mit Politik habe er nichts am Hut. Seine Tochter, so gibt es der „Spiegel“ wieder, habe ihm den Titel, als beide nach einem Namen für das Stück gesucht hätten, auf TikTok gezeigt, der sei dort getrendet. Mit Alpha- und Omega-Männern habe er nichts zu tun.
Und in der Tat, der Trend um den Begriff „Sigma (Boy)“ wurde nicht erst durch den Song losgetreten, allenfalls verstärkt. Auf TikTok wurden Video-Clips mit dem Hashtag #sigma bereits 2023 über 43 Milliarden Mal abgerufen.
In dem Song heißt es übersetzt „Sigma Sigma Boy, jedes Mädchen will mit dir tanzen.“ Der Titel ist auf Englisch, der Rest auf Russisch, immer und immer wiederholt, unterlegt von einem immer schnelleren Dance-Beat.
Don Caldwell betreibt das Blog „Know Your Meme“ und rät dazu, den Trend nicht allzu ernst zu nehmen. Das sei eine der ersten Dinge, die er jemandem raten würde, wenn er gefragt werden würde, was es mit dem Terminus auf sich hat. Caldwell führt im „Guardian“ aus: „Ich würde sagen, 90 Prozent der Leute nutzen den Begriff ironisch.“ Kurz nachdem Sigma ab 2021 begann zu trenden, hätten „Leute angefangen daraus ein Meme zu machen, denn das Konzept dahinter haben sie als lustig und dumm empfunden“, so Caldwell.
„Wenn ich eine kleine, nicht repräsentative Gruppe 15-Jähriger frage, was sie von dem Begriff halten, dann ist die häufigste Antwort: 'cringe'.Cringe, weil das Wort von der Elterngeneration genutzt werde, aber auch, wegen des Konzepts hinter dem Begriff.
Nicht alle Beobachter teilen diese Ansicht: Das Ukrainische Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation sieht in dem Pop-Song ein Werkzeug im „Desinformations-Krieg“, weiß die unabhängige russische Exil-Zeitung „The Moscow Times“, die in Amsterdam erscheint.
Ukrainische Offizielle führen in ihrer Kritik an, dass das Lied ein positives Image Russlands unter jungen Menschen bewerbe, vor allem den Archetyp des „starken Führers“, der die Idee von Dominanz und Männlichkeit vertritt und vermeintlich ausgemachte Schwächen verachte.
In Medien äußern sich Journalisten und Kulturwissenschaftler mehrheitlich kritisch über Song und Trend, auch im EU-Parlament ist beides schon Thema gewesen.