In der Serie „R(h)ein ins Museum“ stellt unser Autor Welf Grombacher einige Häuser vor, die überregionalen Ruf entwickelten – in der heutigen Folge das Neusser Clemens Sels Museum.
R(h)ein ins Museum (2)Die Schätze des Niederrheins im Neusser Clemens Sels Museum
Begegnet sind sie sich nie. Der Bildhauer Georg Minne (1866-1941) und der Maler Léon Spilliaert (1881-1946). Zumindest ist kein Treffen belegt.
Obwohl sich die Wege der zwei Belgier mehrmals gekreuzt haben. In Antwerpen, wo beide dem Künstlerkreis „Kunst van Heden“ angehörten. Und in der Künstlerkolonie Sint-Martens-Latem, wo Minne viel Jahre lang lebte und Spilliaert zwischen 1909 und 1912 seinen Freund, den Maler Constant Permeke besuchte.
Stand der Altersunterschied im Wege?
War es der Altersunterschied, der einer Annäherung im Weg stand? Oder eher das Temperament der Künstler, die beide eher als menschenscheu gelten können? Im Clemens Sels Museum in Neuss treffen die Einzelgänger jetzt in der zauberhaften Ausstellung „Gewagte Visionen“ aufeinander.
Der Besuch lohnt sich. Sind in der von Bettina Zeman kuratierten Schau doch nicht nur rund 70 Werke zu entdecken, die zum Teil selten oder noch nie gezeigt worden sind. Die Sonderausstellung fügt sich auch hervorragend ein in die exzellente Symbolisten-Sammlung des Hauses und trifft mit ihren düster zerbrechlichen Gemälden und Skulpturen zudem die derzeitige Stimmung auf der Welt, die mit der durchaus zu vergleichen ist, die in den Jahren herrschte, als diese Arbeiten entstanden sind.
Mit Weltflucht und einer Todessehnsucht reagierten die Künstler der Jahrhundertwende auf die Herausforderungen der Moderne und auf die technischen Veränderungen. Und steigen nicht auch heute wieder in diesen bewegten Tagen soziale Ängste und ein Gefühl der Überforderung?
Symbolismuszentren waren Paris und Brüssel
Ausdruck davon sind schon am Beginn des Rundgangs im Clemens Sels Museum eine Fassung von Minnes Skulptur „Kniender Jüngling“ (1898) und Spilliaerts düsteres Pastell „Alleine“ (1909), das ein verloren im Raum stehendes Mädchen zeigt und geradezu eine Schwester der von Angst getriebenen Gestalten Edvard Munchs sein könnte.
Die Auflösung traditioneller Bindungen sowie die Einsicht, dass die Natur sich nicht beherrschen lasse und Technik eine Illusion sei, brachte diese gebrechlichen Figuren hervor. Als wollten die Künstler eine neue Spiritualität beschwören, nachdem Rationalisierung und Verwissenschaftlichung sich als Illusion erwiesen hatten.
Zentren des Symbolismus waren Paris und Brüssel. Nietzsche und Schopenhauer hatten ebenso wie Darwin und Sigmund Freud ein Weltbild zertrümmert. Der lustvolle Blick in den Abgrund war eine Reaktion auf die Dekadenz der Gesellschaft.
Die fragilen Figuren von Minne halten diese instabile Identität, das „unrettbare Ich“, wie der Sinnesphysiologe und Philosoph Ernst Mach es ausdrückte, ebenso fest wie die düsteren Pastelle von Spilliaert, die mehr Schatten zeigen als Menschen.
Spilliaerts posthumer Erfolg in Deutschland
Während Spilliaert erst posthum 1963 durch eine Retrospektive des Stuttgarter Kunstvereines hierzulande entdeckt wurde, fand George Minne durch Julius Meier-Graefe, Harry Graf Kessler und Karl Ernst Osthaus früh Förderer in Deutschland. Er stellte mit den Sezessionisten in Berlin und Wien aus und erlangte so eine gewisse Popularität.
Osthaus war es auch, der ihn zu seinem einzigen Besuch in Deutschland veranlasste. 1903 kam Minne nach Hagen, wo sein „Brunnen der Knienden“ im Museum Folkwang die Eingangshalle schmücken und dort bald schon zu einem Wahrzeichen werden sollte. In dem fünffach sich spiegelnden Knaben drücken sich die ganze Zerrissenheit, der gesteigerte Subjektivismus und die narzisstische Ich-Bezogenheit des modernen Menschen aus. Immer wieder hat sich Minne dem Motiv gewidmet und mit den übersteigerten Gesten der späten Fassungen dem Expressionismus das Feld bereitet.
In Neuss sind gleich fünf verschiedene Versionen zu sehen. Nur der Brunnen selbst ließ sich nicht ins Museum transportieren. Dafür vermittelt eine 3-D-Animation auf einem Tablet dem Besucher einen Raumeindruck.
Steht man vor den menschenleeren Deichlandschaften und Stränden, die der lebenslang magenkranke Spilliaert, weil er nachts nicht schlafen konnte, bei seinen somnambulen Streifzügen in Ostende mit Tusche oder Pastellkreide aufs Papier bannte, wirkt es fast wie Ironie des Schicksals, dass die Ausstellung wegen eines Wasserschadens im Clemens Sels Museum nicht wie geplant im vergangenen Jahr gezeigt werden konnte und verschoben werden musste. Zu spät aber, um diese beiden außerordentlichen Künstler zu entdecken, ist es noch nicht.
Bis 3. März, Di bis Sa 11–17 Uhr, So 11–18 Uhr, letzter Donnerstag im Monat 11–20 Uhr, Am Obertor, Neuss