Neues BuchPeter Sloterdijks kritische Gedanken zur Politik in Pandemie-Zeiten
Köln – Nein, Peter Sloterdijk ist kein „Corona-Leugner“, hat auch keinerlei Verständnis für Demonstranten, die bewusst die geltenden Hygieneregeln brechen. Dennoch registriert Deutschlands profiliertester Philosoph: „Der Staat streift seine Samthandschuhe“ ab. Unter diesem Titel bündelt seine aktuelle Publikation „Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020 –2021“.
Vom 18. März des Vorjahrs bis zum letzten Gespräch vom 20.2. 2021 hat sich des Denkers Einschätzung der Pandemie durchaus geändert. Anfangs beobachtet er Alarmismus, in dem „jeder, buchstäblich jeder Einzelne aufgefordert wird, sich bedroht zu fühlen“. Heute attestiert er leichtfertigen „Macho-Politikern“ à la Bolsonaro einen Führungsstil fahrlässiger Tötung.
Zur Person
Peter Sloterdijk, geboren am 26. Juni 1947, ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seine 1983 veröffentlichte „Kritik der zynischen Vernunft“ zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. Im letzten Jahr erschien sein Werk „Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theosophie“ wie all seine Schriften im Suhrkamp Verlag. (EB)
Doch schon früh sieht Sloterdijk am Horizont den „Sicherheitsstaat unter dem Deckmantel einer wohlwollenden Medikokratie“ und prophezeit: „Keine Sorge, das westliche System wird sich als genauso autoritär erweisen wie das chinesische.“ Als Besserwisser will sich der gebürtige Karlsruher nicht aufspielen, empfiehlt vielmehr für ergebnisoffene Probleme die „Labyrinthologie“: Wenn damit zu rechnen sei, nicht gleich den Ausgang aus einem Irrgarten zu finden, komme es auf ein gutes Gedächtnis für die schon passierten Weggabelungen an.
Als moralisch-politische Konsequenz aus der Krise plädiert er für einen „Ko-Immunismus“, das Einschwören der Individuen auf wechselseitigen Schutz. In der Pandemie erkennt der Philosoph den schlagendsten Beweis für die abgeschlossene Globalisierung. Einerseits habe letztere immer schon „Reiseerleichterung für Mikroben“ bedeutet, andererseits konstatiert er die weltweite Synchronität der medizinischen und medialen Ereignisse. „Die Infektion mit Nachrichten ist genauso effektiv, sogar noch effektiver als die mit Viren.“ So gebe es zwei parallele Pandemien: die der Angst und die Ansteckung.
Applaus fürs Autoritäre
In diesen Beiträgen funkeln lohnende Fundstücke am Rande: Gendersternchen? „Eine kapriziöse Verirrung, die binnen weniger Jahre verschwunden sein wird.“ Steuer- und Abgabenpolitik? „Bei einer Staatsquote von plus minus 50 Prozent“ lasse sich unser Wirtschaftssystem schon als okkulter „Semi-Sozialismus“ bezeichnen. Womit wir wieder beim Thema Staat wären. Im Normalzustand eher bemutternd, streife er im im Ausnahmezustand „die Samthandschuhe ab“ und lasse darunter „die eiserne Faust sehen“. Diese Reduzierung „auf reine Exekutivgewalt“ müsse „alle beunruhigen, die für Demokratie, sprich für Gewaltenteilung und Grundrechte eintreten“.
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Das bürgerliche Aufbegehren aber hält sich in Grenzen. Im Gegenteil höre man momentan „einen ungesunden Applaus für neoautoritäre Tendenzen“. Und wie ergeht es ihm selbst in den Lockdown-Zeiten? Beim ersten Mal wähnte sich der Denker noch in „glücklicher Klausur“, um ein eigenes Werk zu vollenden und ungelesene Bücher endlich zu lesen. Dann der Sommer mit vielen Erleichterungen, „doch das änderte sich im Winter, als alles, was wirklichem Leben geglichen hatte, mit den Sohlen am Boden anfror“.
Dabei gehören für ihn eine gewisse Sorglosigkeit und sogar Leichtsinn zu unserer Lebensart. Und mit dem Tunnelblick auf Corona übersehe man, „dass der Tod immer fleißig und in Ruhe seine Arbeit gemacht hat...“
Peter Sloterdijk: Der Staat streift seine Samthandschuhe ab. Ausgewählte Gespräche und Beiträge 2020 – 2021. Suhrkamp, 200 S., 18 Euro.