Neuer Roman von David Mitchell„Utopia Avenue“ ist eine Hommage an die wilden 60er

Die Stimmung der 60er Jahre fängt David Mitchell in Utopia Avenue ein.
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Köln – „Ich war gerade auf der Suche nach grünen Oliven für Roger Moore!“ Klar, wenn man berühmt ist, landet man früher oder später auch auf Parties, auf denen der Gastgeber versucht, es für seine illustren Gäste so angenehm wie möglich zu machen. Und als die Mitglieder der Band Utopia Avenue auf dem Fest eines bekannten Regisseurs eintrudeln, dürfen Bassist Dean, Gitarrist Jasper, Drummer Griff und Keyboarderin Elf gerade ihre erste Dosis Starruhm inhalieren. Und diese Party wird nur die erste von sehr, sehr vielen sein.
In seinem neuen Roman „Utopia Avenue“ erzählt David Mitchell („Der Wolkenatlas“) die Geschichte vom schnellen Aufstieg und ebenso schnellen Ende dieses Quartetts, im Überfluss gesättigt mit dem Flair des Swinging-Sixties-Londons und des „Summer of Love“ auf der anderen Seite des Atlantiks. Und wie selbstverständlich treffen die jungen Musiker auf ebenso aufstrebende Kolleginnen und Kollegen – und solche, die dabei sind, den Zenit in Richtung Verfall zu überschreiten. Joni Mitchell, Jimi Hendrix, Syd Barrett, Cass Elliot, Jim Morrison, Brian Jones – die Liste der Kurzauftritte ist ähnlich lang wie einem Film von Robert Altman.

Auch Jimi Hendrix hat im Buch einen Kurzauftritt
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Ein Treppenplausch mit David Bowie
Da mault David Bowie bei einem Plausch auf der Treppe, dass seine ersten Platten Misserfolge sind, ein junger Marc Bolan schwadroniert von einem Song-Zyklus basierend auf Tolkiens „Herr der Ringe“. Und (die früh verstorbene Folksängerin) Sandy Denny tröstet die von Liebeskummer zerfließende Elf. Später wird Elf von Leonhard Cohen angeflirtet und fachsimpelt mit Janis Joplin über die Probleme, die Frauen im Rockgeschäft haben. Denn auch wenn „ihre“ drei Jungs eigentlich ganz nette Kerle sind, kämpft die Pianistin gegen den spielerisch-bolligen Machismo ihre männlichen Bandkollegen.
Musikalisch geht es bei Utopia Avenue ähnlich zu wie bei Fleetwood Mac (wenn auch ohne die amourösen Verstrickungen untereinander): Bis auf Drummer Griff schreibt jeder von ihnen eigene Songs, die gemeinsam aufgenommen werden. Eifersüchteleien stehen da natürlich an der Tagesordnung, bestimmen aber letztlich nicht das Miteinander. Zu groß ist die Freude am gemeinsamen Staunen über die Welt, in die sie da fast wie aus Versehen hineinschlittern...
Wiederkehrende Figuren

Der Autor David Mitchell
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Als besonderes Merkmal, das alle Bücher von David Mitchell (Foto) teilen, tauchen immer wieder Figuren aus früheren Romanen auf. In „Utopia Avenue“ sind das neben der Titelfigur aus „Die tausend Herbste des Jacob de Zoët“ etwa Elfs Geliebte Luisa Rey, die schon in „Wolkenatlas“ eine Rolle spielte, oder Jaspers Schulfreund Heinz Formaggio in Mitchells Debüt „Chaos“. Dort taucht auch der Radio-DJ Bat Segundo auf. Band-Manager Levon Frankland oder Partygast Crispin Hershey kennen die Leser von „Die Knochenuhren“ – genauso wie Esther Little and Dr. Marinus, die im aktuellen Buch Jasper helfen, seine psychische Krankheit zu bekämpfen. (HLL)
Sex, Drugs und Rock’n’Roll zwischen zwei Buchdeckeln, flüchtige Affären, ein Aufenthalt im Knast und eine geklaute Tourkasse: Mitchell erfindet das Pop-Rad nicht neu, lässt es aber süffig auf Touren kommen – um aber immer wieder abzudrehen und das im wahrsten Sinne des Wortes. Mit jedem Kapitel wechselt die Erzählperspektive zu einem anderen Bandmitglied, regelrecht düster und abgefahren wird es, wenn der Leser in Jasper de Zoëts Kopf katapultiert wird.
Der Gitarrist, der sich als Nachfahr der Hauptfigur von Mitchells „Die tausend Herbste des Jacob de Zoët“ entpuppt (siehe Infokasten), leidet seiner Jugend an schweren psychischen Problemen: In seinem Kopf hat sich ein Geist eingenistet, der den jungen Mann durch Klopfgeräusche fast in den Wahnsinn treibt. Statt die Diagnose „auditive Schizophrenie“ oberflächlich mit der heilenden Kraft der Musik auszuhebeln, zieht der Autor eine mystische, übersinnliche Erzählebene ein, wobei er offenlässt, ob es sich hierbei um ein bewusstes Fantasy-Element handelt oder nur um einen weiteren drogenbenebelten Tiefflug.
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Beim Einsatz so vieler Körper und Geist beeinflussender Substanzen erwartet man ein entsprechendes Ende der Band. Doch das kommt banaler, profaner durch ein „Zur falschen Zeit am falschen Ort“ – während das Happy End der Geschichte zu Tränen rührt.
David Mitchell: Utopia Avenue. Roman. Aus dem Englischen von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, 752 S., 26 Euro. Erhältlich ab 19. Juli.