Neuer Roman „Vernichten“Michel Houellebecqs neue Leidens- und Liebesradikalität
Köln – Politprovokateur, Pornograf oder Untergangsprophet, diese Etiketten wollen an Frankreichs skandalverdächtigstem Autor kaum noch haften. Immerhin ist „Unterwerfung“, Michel Houellebecqs Dystopie der von Muslimen regierten Grande Nation schon sieben Jahre her, und „Serotonin“ (2019) schilderte die Selbstzerstörung eines „substanzlosen Weicheis“.
Sein aktueller Roman suggeriert zumindest im Titel „Vernichten“ alte Eklat-Energie und beginnt beinahe als Thriller. Mitten im Präsidentschaftswahlkampf 2027 veröffentlichen Terroristen ein Video von der Guillotinierung des Wirtschaftsministers Bruno Juge. Der ist zwar, wie sein Assistent Paul Raison(!) weiß, tatsächlich quicklebendig, doch folgen der virtuellen Tat bald reale Attentate etwa auf Containerschiffe.
Der 65-jährige Autor spinnt hier ein vieldeutig schillerndes Verschwörungsnetz, wobei unklar bleibt, ob diese Anschläge von Ultralinken, fundamentalistischen Katholiken oder Öko-Freaks verübt werden. Außerdem scheint Pauls Vater, ein ehemaliger Geheimdienstmann, noch Akten mit Plänen ähnlicher Komplotte zu besitzen.
Michel Houellebecq wird sanfter
Während Houellebecq diese eskalierende Bedrohung im Hintergrund wabern lässt, zeichnet er ein für seine Verhältnisse erstaunlich weiches Sittenbild der französischen Politik. Dabei fällt der Name Macron nie. Doch wird klar, dass er Anfang 2027 noch regiert, nur eben nicht zu einer dritten Amtszeit antreten darf und deshalb einen TV-Talkmaster als Ersatzmann ins Rennen schickt, den er bald wieder abzulösen gedenkt.
Schlusswort?
Unter dem Titel „Dank“ würdigt der Autor seine Quellen, etwa jene Ärzte, die ihm die Krankheit von Pauls Vater erläuterten. Er ermuntert seine französischen Kollegen, mehr zu recherchieren, denn es gebe viele Experten, „die den Laien gerne erklären, was sie tun“. Es folgt der rätselhafte Schluss des Nachworts: „Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.“ (Wi.)
Während das Buch dem Präsidenten arrogante Intelligenz und kalten Machtinstinkt attestiert, darf Bruno Juge als professionell geniale und privat empathische Lichtgestalt glänzen. Eine fiktive Figur, die offenbar vom aktuellen Wirtschaftsminister und Houellebecq-Freund Bruno Le Maire inspiriert ist. Marine Le Pens Partei bleibt mit einem namenlosen Kandidaten im Halbschatten, während der Autor dem markanten Rechtsaußen Éric Zemmour nur einen lapidaren Schlenker gönnt.
Diese überschaubare politische Sprengkraft ist kein Zufall, denn die wahren Minenfelder liegen im Privaten. Die Ehe zwischen Paul und Prudence hat den untersten Gefrierpunkt erreicht, wovon neben getrennten Schlafzimmern auch feindliche Sektoren im Kühlschrank zeugen.
Außerdem geistert Paul wie ein Schlafwandler durchs eigene Leben, wird tagsüber von wilden Albträumen heimgesucht, interessiert sich trotz seines Berufs kaum für Politik und auch nicht mehr für Sex. Hier glückt das messerscharfe Porträt eines erlösungsbedürftigen Mannes.
Der will doch nur fühlen
Erst als dessen Vater nach einer Hirnblutung in Lyon behandelt wird, beginnt sich die innere Erstarrung des Sohns zu lösen. Den Aufenthalt im nahen Beaujolais empfindet er als Rückkehr ins Arkadien der Kindheit. Zwar bietet die Familie mehr Kummer (der sprachlos gelähmte Vater, der todunglückliche Bruder Aurélien) als Trost, doch genießt Paul die Nähe seiner frommen Schwester Cécile.
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Bei Houellebecq weicht nun das manchmal Halbstarke dem Humanen, fast möchte man sagen: Der will doch nur fühlen. Als Meisterstück der Geschichte entpuppt sich die trippelschrittweise Wiederannäherung zwischen dem Protagonisten und Prudence. Zuerst schüchterne Gesten, dann gemeinsame Spaziergänge, schließlich das lustvoll geteilte Bett. Diese unerwartete Liebesgeschichte wird zum Glutkern des Romans.
Dann jedoch schlägt das Schicksal einen Haken, der klarmacht, dass es künftig neben spätem Glück auch unsäglichen Schmerz zu teilen gilt. Diese letzten 120 Seiten schreibt Michel Houellebecq mit zärtlicher Schonungslosigkeit, mit einer Leidens- und Liebesradikalität, die in seinem bisherigen Werk Ihresgleichen sucht.
Michel Houellebecq: Vernichten. Roman, aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. DuMont Buchverlag, 621 S., 28 Euro.