In seinem neuen Roman „Abgrund“ widmet sich Robert Harris der Affäre eines englischen Regierungschefs.
Politik, Affäre und WeltkriegIn „Abgrund“ beleuchtet Robert Harris das Liebesleben von H.H. Asquith
Das Gute zuerst: H.H. (Herbert Henry) Asquith ist eher Moderator als Polit-Despot, ein nachdenklicher Mann. Allerdings tuschelt London über sein Faible für Alkohol und sehr viel jüngere Frauen. Im Juli 1914 umgarnt der verheiratete Premierminister (61) die Adelstochter Venetia Stanley, belagert sie mit flammenden Briefen und Rendezvouswünschen.
Ob sie ihn liebt, weiß die 26-Jährige nicht, nur, „dass sie ihn lieber mochte als jeden anderen Mann, der ihr über die Jahre nachgelaufen war“. Nicht zuletzt wegen der Macht, „die er mit so leichter Hand zu tragen wusste“. Ganz so leicht aber doch wohl nicht, denn H.H. sucht dringend Venetias Urteil in heikelsten politischen Fragen.
Authentische Liebesgeschichte
Diese gefährliche Liebschaft musste sich Robert Harris für seinen Roman „Abgrund“ nicht ausdenken, denn Asquith (1852–1928) war eine Figur der englischen Zeitgeschichte, und seine Briefe an die Umworbene sind authentisch.
Der britische Autor kennt zwar keine Angst, historische Fakten so radikal umzudenken wie in seinem Debüt „Vaterland“, in dem das Dritte Reich den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte. Hier aber bleiben die Eingriffe subtil: Venetias (tatsächlich verbrannte) Antwortbriefe sind erfunden, auch Scotland Yards Ermittler Paul Deemer hat es nie gegeben.
Staatsgeheimnisse in Liebesbriefen
Der jedoch bekommt viel zu tun, da H.H. auch angesichts des ausbrechenden Ersten Weltkriegs gar nicht daran denkt, seine Privatkorrespondenz zu zensieren. Munter plaudert er Truppenstärken, Strategien und Schlachtverläufe aus, wirft sogar zerknüllte Geheimdepeschen aus dem fahrenden Wagen. Halsbrecherischer Leichtsinn an der Heimatfront, den Deemer als Spion auf dem Landsitz der Stanleys aufdeckt.
Der 67-jährige Schriftsteller verknüpft seine fesselnden Erzählfäden virtuos: Da ist nach dem Attentat von Sarajevo die Hektik der Ultimaten und die kleine Chance, den apokalyptischen Reitern vielleicht doch noch in die Zügel zu greifen – bald aber nur noch Entsetzen über die deutschen Eroberungen. Davon ungerührt bleibt Englands reicher Adel bei surrealer Prasserei.
Churchill und die Dardanellen
In der Schlangengrube des Kriegskabinetts glänzen derweil bekannte Protagonisten: der ob seiner Orient-Feldzüge berühmte Lord Kitchener, der doppelzüngige Lloyd George und vor allem der junge Winston Churchill als kampfeshungriger Hasardeur. Seine schwerste Niederlage: das Desaster an den Dardanellen.
Über all dem verliert Harris sein Liebespaar nie aus den Augen, wobei er nur zart andeutet, dass da womöglich mehr war als der Austausch romantischer Sonette, gemeinsame Autofahrten und Spaziergänge. Asquith leidet zunehmend darunter, junge Männer mit Rekrutierungsreden in die Knochenmühle schicken zu müssen.
Emotionale Temperatur sinkt
Gleichzeitig verstärkt er die fürsorgliche Belagerung seiner Geliebten. Als diese ihrem noblen Müßiggang abschwört, sinkt die emotionale Temperatur ihrer Briefe.
Psychologische Finesse, politische Brillanz, leuchtstarke Milieus und Personen – hier stechen alle Trümpfe.
Robert Harris: Abgrund. Roman, Deutsch von Wolfgang Müller. Heyne, 510 S., 25 Euro. Lit.Cologne-Lesung: 17.11., 19 Uhr, Comedia, Vondelstr. 4-8.