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Michael Steinbrecher im Interview„Ich führe sicherlich ein privilegiertes Leben“

Lesezeit 3 Minuten
Steinbrecher DPA 181119

Michael Steinbrecher

KölnKönnen Sie sich vorstellen, eines Tages auf der Straße zu landen?

Ich führe heute sicherlich ein privilegiertes Leben. Aber ich glaube, dass solche Schicksale jeden ereilen können. Die Erfahrungen der Menschen in meinem Buch zeigen ja gerade, dass wir alle in schwierige Situationen geraten können. Haben sie doch selbst noch ein halbes Jahr vor ihrem Schicksalsschlag nicht daran geglaubt, jemals auf der Straße zu landen.

Sie schreiben, dass diese Gefahr wächst, weil die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Was macht das mit unserer Gesellschaft?

Das führt immer mehr Menschen in Situationen, in denen sie kämpfen müssen. Und die, die um ihre Existenz und Würde kämpfen müssen, kommen zu wenig zu Wort. Wenn eine Gesellschaft sich immer weiter auseinanderentwickelt, leidet das Gefühl, in einer gerechten Gemeinschaft zu leben. Ungleichheit wird es immer geben, aber wir sollten alle darauf achten, dass sie nicht zu groß wird. Nehmen Sie die Chancengleichheit: Über 70 Prozent der Akademikerkinder studieren. Nur 30 Prozent der Kinder, die aus nichtakademischen Familien stammen, gehen zur Universität. Reichtum: In Deutschland besitzen 50 Prozent der Bürger 97 Prozent des Eigentums.

Lesung in Köln

Der Kampf um die Würde – Was wir vom wahren Leben lernen können. Herder Verlag, Hardcover mit Umschlag, 256 Seiten 22 Euro; ISBN 978-3-451- 38199.

Montag, 18. November, 20.15 Uhr, Lesung von Michael Steinberger in der Mayerschen Buchhandlung am Neumarkt 2.

Wo bleibt der Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit?

Der ist im Buch zu finden. Dass ein Pfleger auf die Missstände in seinem Arbeitsalltag hinweist, das ist ein Aufschrei. Er riskiert seinen Job, weil er sagt, dass es so nicht weitergehen kann. Von solch mutigen Menschen lebt unsere Gesellschaft.

Das sind einzelne Stimmen, aber eben kein breiter gesellschaftlicher Aufschrei.

Es gibt Bedürftige, die Anspruch auf eine Leistung haben, jedoch den Gang zum Amt als entwürdigend empfinden. Sie würden lieber Katzenfutter essen, als dort ihre Würde zu verlieren. Darum müssen wir denjenigen, die nicht sprechen, eine Stimme geben und denen, die protestieren, zuhören. Es stimmt: Die Armen und diejenigen, die um ihre Würde kämpfen, haben keine Lobby. Aber sie sollten eine haben.

Sie gehen mit ihrem Buch auf Lesetour durch Deutschland. Wie reagieren die Zuhörer auf die Geschichten vom Rande der Gesellschaft?

Ich habe das Gefühl, dass dabei ein Bewusstsein für Ungerechtigkeit entsteht. Das ist wichtig, weil es immer noch Ignoranz gegenüber solchen Schicksalen gibt. Ich schreibe in dem Buch über einen Gast in meiner Sendung Nachtcafé, in der es um das Thema Armut in Deutschland ging. Betroffene kamen zu Wort. Der Gast sagte anschließend zu mir: Herr Steinbrecher, diese Menschen, die da sprachen, die gibt es doch gar nicht. Dabei saßen sie ihm gegenüber. So etwas hat auch damit zu tun, dass wir Gesellschaftsschichten haben, die in einer Blase leben, ohne Kontakt zu anderen Schichten.

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Aber was müsste denn geschehen, damit sich die Schere wieder schließt?

An erster Stelle: sich die Ungleichheit bewusst zu machen. Im Grundgesetz, Artikel 1 steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Für sich genommen, ist dieser Satz falsch. Die Würde des Menschen ist antastbar. Er wird erst richtig, wenn wir etwas dafür tun. Und wir sollten jetzt sehr schnell etwas tun. Nämlich für die da sein, die keine Lobby haben.