„Das regt mich echt auf!“SPD-Außenpolitiker Michael Roth ringt bei „Markus Lanz“ um Fassung

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„Wollen wir wirklich einen substanziellen Beitrag dazu leisten, dass die Ukraine eine realistische Chance hat, frei, unabhängig, demokratisch zu sein?“, fragte SPD-Außenpolitiker Michael Roth (rechts) im Gespräch mit Markus Lanz. (Bild: ZDF/Markus Hertrich)

„Wollen wir wirklich einen substanziellen Beitrag dazu leisten, dass die Ukraine eine realistische Chance hat, frei, unabhängig, demokratisch zu sein?“, fragte SPD-Außenpolitiker Michael Roth (rechts) im Gespräch mit Markus Lanz.

Militärische Unterstützung bis zum Sieg gegen Russland, das versprach die NATO kürzlich der Ukraine. Doch viele Deutsche wünschen sich diplomatische Lösungen. 

Als einen Wendepunkt in der Ukraine-Unterstützung bezeichnete NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Jubiläumsgipfel der Sicherheitsgemeinschaft in Washington. Beim Treffen zum 75. Geburtstag versprachen die Mitgliedsstaaten des Militärbündnisses, nicht nur eine künftige Aufnahme in die Gemeinschaft. Sie sicherten dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor allem zu, bis zum Sieg gegen Russland an seiner Seite zu stehen.

Innerhalb eines Jahres wird die Ukraine Militärhilfen im Wert von insgesamt 40 Milliarden Euro bekommen. Zudem erhält die Regierung in Kiew von den NATO-Staaten fünf neue Patriot-Luftabwehrsystem, darunter auch eines von den USA. Der US-Präsident hätte „generöserweise“ ein Patriot-System zur Verfügung gestellt, ließ SPD-Außenpolitiker Michael Roth bei „Markus Lanz“ am Donnerstagabend (11. Juli 2024) keine Zweifel offen, was er von diesem Versprechen hielt.

Markus Lanz: SPD-Politiker Michael Roth ringt um Fassung

Deutsche Regierungsvertreter wären die letzten Monate „durch Europa gezogen wie Bittsteller“ und hätten versucht, Luftabwehrsysteme zu erhalten. Es ginge nicht darum, „eroberte Gebiete zu befreien, sondern Menschenleben zu schützen“, betonte er. Generell wäre die Unterstützung der NATO stark, „aber nicht stark genug“. Angesichts der prekären Lage in der Ukraine forderte er die Gemeinschaft auf, „sich endlich mal zu entscheiden“: „Wollen wir wirklich einen substanziellen Beitrag dazu leisten, dass die Ukraine eine realistische Chance hat, frei, unabhängig, demokratisch zu sein?“

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Dieses „klare, ehrliche Bekenntnis“ fehlte zum Zeitpunkt der Talkshow, bei der neben Roth auch Historikerin Marie-Janine Calic, Ex-Botschafter Rüdiger von Fritsch und Ex-Diplomat Rolf Nikel über eine potenzielle Lösung des Ukraine-Konflikts diskutierten.

Überraschungsbesuche beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, bei Wladimir Putin und beim chinesischen Staatschef Xi Jinping: Dass die jüngsten diplomatischen Initiativen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban jedenfalls kein adäquater Beitrag zur Konflikt-Lösung wären, darüber waren sich alle Gäste einig. „Was ist schlecht daran?“, wollte Markus Lanz wissen, schließlich wären solche Gespräche auch in der Sendung immer wieder gefordert worden.

„Alleingänge sind erwiesenermaßen kontraproduktiv“, kannte Historikerin Calic die Antwort. Sie würden der Welt Sand in die Augen streuen und faktisch andere Bemühungen unterlaufen. „Hier ist kein Diplomat unterwegs, hier ist eine Krämerseele unterwegs“, fügte von Fritsch hinzu. „Viktor Orban war in Moskau und China, weil er sich von beiden Ländern abhängig gemacht hat.“ Die Chinesen bauten ihm eine Autobahn nach Serbien, von den Russen erhalte er weiter Öl und Gas. „Und was der Wert dieser Aktion ist, zeigt sich in der Tatsache, dass salopp gesagt - kaum sitzt er im Flieger, schickt Moskau Raketen auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew. Und damit macht man etwas kaputt.“

Im ZDF diskutierten (von links) Michael Roth, Marie-Janine Calic, Rüdiger von Fritsch und Rolf Nikel. (Bild: ZDF/Markus Hertrich)

Im ZDF diskutierten (von links) Michael Roth, Marie-Janine Calic, Rüdiger von Fritsch und Rolf Nikel. (Bild: ZDF/Markus Hertrich)

Dass aktuell diplomatische Friedensbemühungen stattfänden, schloss Roth aus: „Viele wünschen sich Frieden: Baerbock soll hinreisen, Scholz auch noch, und sie alle sollen endlich mal mit Putin reden“, war er sich der Hoffnung vieler Deutscher bewusst. Doch Putins Bedingungen für einen Frieden wären unzumutbar. Das wüsste auch Orban.

Ihm ginge es nur darum, „den Eindruck zu erwecken, es bräuchte einen Friedensfürsten wie ihn“. Im Prinzip wäre es eine Delegitimierung des Westens, denn Orban sei „Meister der Propaganda - und er führt den Westen und die liberale Demokratie immer wieder vor“.

„Der reife Moment ist noch nicht eingetreten in diesem Krieg“, analysierte Calic die Situation in der Ukraine. Dabei handele es sich um den kritischen Moment, „wenn sich auf beiden Seiten die Erkenntnis durchsetzt, dass eine Fortführung des Kriegs keine Vorteile bringt“. Erst dann könnten ernsthafte diplomatische Bemühungen um eine Friedenslösung beginnen. Vielmehr müsste nicht nur die Ukraine mit mehr Waffen beliefert, sondern vor allem wirtschaftlicher und finanzieller Druck auf Russland ausgeübt werden.

„Die Botschaft 'Lieber Freund, das geht ins Portemonnaie' wird drüben verstanden“, brachte es von Fritsch auf den Punkt. Putin wisse: „Seine Mittel sind nicht unendlich. Den Punkt fürchtet er. Bis dahin müssen wir durchhalten.“

Markus Lanz: Chinas Rolle nicht unterschätzen

Auch Chinas Rolle dürfte nicht unterschätzt werden, betonte Roth. Der „Krieg könnte nur deshalb geführt werden, weil China die schützende Hand über Russland hält. Und wir gucken zu“, wurde der Außenpolitiker zunehmend emotional. „Wir müssen zu anderen Form des Umgangs mit China kommen, sonst wird es nie zu ernsthaften Verhandlungen kommen. Das regt mich echt auf.“

Die Vorstellung, man müsste sich nur an den Tisch setzen und würde eine Einigung erzielen, wäre falsch, warnte Ex-Diplomat Rolf Nikel. Er zitierte den ehemaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt: „'Spreche sanft, aber habe einen dicken Knüppel' - und ich glaube, das ist für die internationale Diplomatie, die echten Frieden will, absolut notwendig.“ Die militärischen und diplomatischen Instrumente müssten ineinander greifen, präzisierte Calic. „Und da sind Timing und der richtige Moment wichtig.“

Die Historikerin machte auf ein weiteres Problem aufmerksam: Da eine bedingungslose Kapitulation wie im 2. Weltkrieg die Ausnahme wären, müssten Opfer bei Friedensverhandlungen mit den Aggressoren und Kriegstreibern an einem Tisch sitzen und einen „ungerechten Frieden hinnehmen“. Die Folge solcher Kompromisse wären weiter gärende Konflikte oder „die Fortführung des Kriegs mit nicht-militärischen Mitteln.“

In den Balkanstaaten wäre das deutlich zu beobachten. Vor allem in Bosnien-Herzegowina hätte der Ukraine-Krieg diese Konflikte bereits verschärft. Zusätzlich destabilisierte die Abwanderung hochqualifizierter junger Arbeitskräfte die Region weiter, sah auch Roth ein „großes Konfliktpotenzial“.

Ob ein neuer Brandherd entstünde, hänge laut Nikel von der Situation in der Ukraine ab: „Wenn es in der Ukraine schiefgeht, wird es auf Balkan noch schlimmer als es eh schon ist“, äußerte der Ex-Diplomat seine Befürchtungen. (tsch)