AboAbonnieren

lit.CologneWolfram Eilenberger spricht in Köln über die „Geister der Gegenwart“

Lesezeit 3 Minuten
Gerd Scobel (links) im Gespräch mit Wolfram Eilenberger auf der lit.Cologne02024

Eilenberger.

Gerd Scobel (links) im Gespräch mit Wolfram Eilenberger auf der lit.Cologne.

Philosoph Wolfram Eilenberger diskutiert auf der lit.Cologne sein neuestes Werk „Geister der Gegenwart“ – eine Untersuchung der zeitgenössischen Philosophie nach Weltkrisen.

Das Klischee vom weltfremden Denker wird rasch abgeräumt. Am 10. Juni 1984 liegt Frankreichs Philosophie-Star Michel Foucault schon als HIV-Patient im Krankenhaus, will aber unbedingt das Pariser Tennisfinale zwischen Hitzkopf John McEnroe und Kaltblüter Ivan Lendl im Fernsehen verfolgen. Eine notwendige Untersuchung empfindet er als Zumutung.

Fataler Dynamik unterlegen

Wolfram Eilenberger schildert dies in seinem neuen Buch „Geister der Gegenwart“ und zollt der Episode auch modisch Tribut: Bei der lit.Cologne-Lesung im WDR-Sendesaal trägt er ein Shirt von Tacchini, jener Marke, die McEnroe auf dem Court bevorzugte. Dann wird es im Gespräch mit Gert Scobel allerdings ernst, kreist doch das Buch darum, was Philosophie nach den Zivilisationsbrüchen der Shoah, des Gulag sowie von Hiroshima und Nagasaki überhaupt noch vermag.

Neben Foucault ruft Eilenberger dafür drei weitere Kronzeugen auf: die Amerikanerin Susan Sontag, den Österreicher Paul Feyerabend und den Deutschen Theodor W. Adorno. Letzterer hat schon im kalifornischen Exil mit der „Dialektik der Aufklärung“ reüssiert und kehrt im November 1949 ins hässliche Nachkriegs-Frankfurt. So sehr ihn Kants Lehre geprägt hat, so entschlossen fordert er eine neue Aufklärung. Der Geist müsse erkennen, „dass die Realität nicht in allem ihm gleicht, sondern einer bewusstlosen und fatalen Dynamik unterliegt“.

Auf Scobels Wunsch führt der Autor den Wiener Weltkriegs-Veteranen Feyerabend mit einer fantastischen Szene seines Buchs ein: London empfängt den genialen Naturwissenschaftler im Dezember 1952 mit einer extremen Wettervariante. Man sieht tagelang kaum die Hand vor Augen in einem Nebel, der ihm als Symbol von Erstarrung und geistiger Blindheit erscheint. Beides attestiert der Denker auch der aktuellen britischen Philosophie, die eine einzige Methode zur Lösung aller Fragen zu haben glaubt. Feyerabend hält dies in Erinnerung an Ludwig Wittgensteins Motto „Denk nicht, sondern schau“ für Hochstapelei und schreibt später sein Hauptwerk „Wider den Methodenzwang“ („Against Method“).

„Fast überirdisch Begabte“

Die Vierte im Bunde, Susan Sontag, hat da mit ihrem brillanten Essayband „Against Interpretation“ schon vorgelegt. Die als fiktionale wie analytische Autorin „fast überirdisch Begabte“ (Eilenberger) sieht besonders angesichts der bahnbrechenden neuen Kunst von Mark Rothko, Jackson Pollock & Co. rührend unzulängliche Deutungsversuche alter Schule. Die größte Gemeinsamkeit innerhalb dieses philosophischen Quartetts? „Allen geht es um Geistesgegenwärtigkeit sich selbst und der Zeit gegenüber“, erklärt der 52-jährige Autor aus Freiburg im Breisgau. So stellen sie bohrende Skepsis über anmaßende Gewissheit.

Eilenbergers „erzählendes Sachbuch“ liest sich nicht nur wegen seiner präzisen Planskizzen der Denkgebäude hervorragend, sondern zeichnet plastische Porträts seiner Protagonisten. „Ich habe versucht, sie mir schreibend zu erschließen“, meint er bescheiden. Foucault begeht mehrere Selbstmordversuche – einmal zerfetzt er seine Brust mit einem Rasiermesser – und lernt psychiatrische „Gegenmittel“ wie Elektroschocks kennen.

Denken ohne Geländer

Dies bringt ihn dazu, in „Wahnsinn und Gesellschaft“ zu fragen, wie es dazu kam, „Gesunde“ von „Irren“ zu trennen. „Dabei schreibt er sich aus dem Wahnsinn heraus.“ Während Susan Sontag 1968/69 nach Nordvietnam und Kuba reist, rücken ihre Kollegen ins Fadenkreuz der Studentenrevolte: Feyerabend in Berkeley, Foucault in Paris und Adorno in Frankfurt. Dort nehmen ihm die jungen Rebellen besonders übel, nach dem Hausfriedensbruch der Radikalen die Polizei zu rufen, doch Wolfram Eilenberger stellt klar: Bei aller Kapitalismuskritik „hat Adornos Lehre immer nur Imperative der Unterlassung geboten“, da er Revolution für fatal hielt. Der Schriftsteller schätzt an seinen „Geistern“, niemals das apodiktische „Das ist eben so“ zu akzeptieren.

Irgendwie kommen sie dann wieder auf Kants Frage „Was ist Aufklärung?“ von 1784 und die berühmte Antwort zurück: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. So ein Denken ohne Geländer sei auch heutzutage bitter nötig, brauche indessen Training, meint der heftig beklatschte lit.Cologne-Gast.

Wolfram Eilenberger: Geister der Gegenwart. Die letzten Jahre der Philosophie und der Beginn einer neuen Aufklärung 1948 – 1984. Klett-Cotta, 496 S., 28 Euro.