In seinem neuen Roman „Der Fall Brooklyn“ greift Jonathan Lethem die Gentrifizierung eines Viertels auf. Wir haben mit dem Autoren gesprochen.
lit.Cologne in KölnJonathan Lethem zum gefährlichen Tanz auf der Straße

Jonathan Lethem
Copyright: Nabil Hanano
Die Kinder bezahlen die Zeche, und kassiert wird auf der Straße. Natürlich hatten ihre weißen Hippie-Eltern nur das Beste im Sinn, als sie in den 1960er Jahren nach Brooklyn zogen und erschwingliche Brownstone-Häuser kauften. Den Dean-Street-Boys könnte es also gut gehen, wenn da nicht die schwarzen Jungs wären, die auf ihre älteren Rechte pochen. Jonathan Lethem ist in der Dean Street aufgewachsen, der sein neuer Roman „Der Fall Brooklyn“ nun ein schillerndes Denkmal setzt.
Seltsames Kräftemessen
Im Gespräch vor der lit.Cologne-Lesung erzählt der 61-Jährige, welches Bild ihm als erstes einfällt, wenn er an sein altes Viertel denkt: „Es ist die Treppe vor der Haustür, diese Verbindung von innen und außen.“ Im Roman heißt es: „Auf der Straße passieren Dinge, die man den Eltern nicht erklären kann.“ Wobei letztere ihren Sprösslingen immerhin ein paar Dollar zur Beruhigung möglicher Angreifer mitgeben.
Nur kennen sie eben nicht dieses seltsame Kräftemessen, das Lethem als „Tanz“ bezeichnet, „ein fast theatralischer Vorgang“, bei dem es den Schwarzen anscheinend um Geld geht, wobei der wahre Zweck eher Demütigung der weißen Kontrahenten ist. Der Autor sieht darin „auch ein Moment politischer Kritik: Du musst mich bezahlen, denn das ist mein Platz“. In wie viele „Tänze“ war er selbst verwickelt? „Da kann ich keine Zahl nennen, aber ein anderes Leitmotiv des Buchs ist die kollektive Erfahrung samt der entsprechenden Legenden.
Kann also durchaus sein, dass mancher Zwischenfall, an den ich mich erinnere, tatsächlich jemand anderem passiert ist.“ Im aktuellen Werk dient ein schwarzer Junge namens C. als eine Art Schutzengel für die hellhäutigen Altersgenossen. Das wiederum lässt an Lethems früheren Brooklyn-Roman „Die Festung der Einsamkeit“ denken, der zwischen Dylan und Mingus eine ähnliche Jugendfreundschaft über die Rassengrenzen hinweg beschreibt. „Beide Bücher haben starke autobiografische Elemente“, räumt der Schriftsteller ein, „aber eben nicht eins zu eins. Ich versuche eher ein Mosaik aus meinen Erfahrungen, bei C. etwa ist die Figur aus drei oder vier wirklichen Personen montiert und außerdem aus Mingus, einem fiktiven Helden.“
Krimis karikiert
Im Original heißt das Buch „Brooklyn Crime Story“, karikiert aber mit lächerlich geringfügigen Vergehen normale Kriminalgeschichten: Ein zersägter Vierteldollar hier, ein geklautes Magazin dort oder ein Baseball, der eine Windschutzscheibe zertrümmert. Ist das eigentliche Verbrechen eher die Gentrifizierung des Viertels, die aus erschwinglichen Brownstone-Houses sündhaft teure Immobilien machte? „Ja, vielleicht sogar noch allgemeiner Geld oder Kapitalismus, der den Kurs unseres Lebens bestimmt. Allerdings musste man damals schon ein bisschen kriminell sein, um sich für die Straße zu qualifizieren.“
Jonathan Lethem begann seine Autorenkarriere in der Bay Area an Amerikas Westküste, kehrte dann nach Brooklyn zurück und lehrt nun seit 15 Jahren kreatives Schreiben am südkalifornischen Pomona College. In diesem Fach brilliert sein jüngstes Buch: Es springt temporeich durch rund 50 Jahre, ein gigantisches, pulsierendes Puzzle. „Ja, ich musste Szenen, Figuren, Stimmen immer neu gegenüberstellen, um zu sehen, welche Energie sie erzeugten.“
Der Roman strotzt nur so vor skurrilen Charakteren, doch der wahre Protagonist ist Brooklyn selbst. Eine Liebeserklärung an diesen Ort? „Gewiss auch das, denn je kritischer ich das Viertel befrage, desto mehr spüre ich doch, wie eng es zu meinem ganzen Leben gehört.“ Früher hatten die dortigen Bewohner einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der glitzernden Schwester auf der anderen Seite des East River. So hieß es etwa „Manhattan makes, Brooklyn takes.“ Diese traditionelle Rolle aber habe sich gründlich geändert, Aschenputtel ist glamourös geworden.
Lebendige Stimme
Gegen Ende des Buchs kommt der Autor selbst ins Spiel, dem seine Figuren vorhalten, dass er ihnen alles verdanke. Überhaupt ist der experimentierfreudige Schriftsteller stets dem Wesen, den Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens auf der Spur. Welche Qualität eines Buchs erscheint ihm als Leser wie als Autor am wichtigsten? „Es ist die Stimme, die erzählt – sie muss für mich lebendig, wahrhaftig, überraschend sein, dann ist die Story beinahe egal.“
Jonathan Lethem: Der Fall Brooklyn. Roman, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. Tropen, 445 S., 26 Euro.
Als nächstes Werk veröffentlicht Jonathan Lethem neue und ausgewählte Kurzgeschichten aus 30 Jahren. „Mein nächster Roman spielt in Kalifornien und handelt von einem Streik in einem sehr seltsamen Zweig der Unterhaltungsindustrie. Da geht es um mittelalterliche Ritterspiele.“ Ist er als Autor mit Brooklyn fertig? „Nein, ein Buch soll es noch geben, aber das dauert noch eine ganze Weile.“