Die Autorin Angela Steidele spricht im Rundschau-Interview über eine der führenden Münzkundlerinnen und ihren Lehrer Ferdinand Franz Wallraf.
Schülerin von Franz Wallraf„Wallraf hat seine Freude von Anfang an mitgeteilt“
Ferdinand Franz Wallraf war Universalgelehrter und engagierter Pädagoge, der auch bei den Nachbarskindern Interesse an der Geschichte weckte. Jan Sting sprach mit Angela Steidele, die ein Buch über seine „Schülerin“ Sibylle Mertens schrieb.
Der Kölner Bankier Abraham Schaaffhausen war mit Ferdinand Franz Wallraf befreundet. Bei seinen Besuchen begleitete ihn seine kleine Tochter Sibylle. Sie wurde als Archäologin unter dem Namen Mertens-Schaaffhausen bekannt, über die Sie ein Buch geschrieben haben. Welche Bedeutung spielte Wallraf in ihrem Leben?
Sie ist an der Hand ihres Vaters zu ihm gegangen. Auch der Schriftsteller Ernst Weyden, der für mich eine wunderbare Quelle war, ist dort als Kind ein und ausgegangen. Aber Wallraf hat nicht nur einem Jungen seine Sammlung gezeigt, wie es andere in der Zeit getan hätten, sondern er hat sich auch einem Mädchen zugewandt und ihr seine Sammlung gezeigt. Vermutlich hat er ihr gesagt „schau mal die schönen Bilder, oder guck mal hier die Heideköpp“.
Was hat es denn mit denen auf sich?
Das sind die römischen Münzen, auf denen die Köpfe von Göttern abgebildet waren, also Heiden.
Wallraf versprach Sibylle Mertens sogar einmal eine römische Münze, was war die Gegenleistung?
Er kam an einem Morgen mit einem Friseurmeister und zeigte ihr eine herrliche Münze mit der Abbildung der Agrippina. Er versprach ihr, dass sie die Münze bekommt, wenn sie sich die Haare frisieren lässt, wie sie die römische Gründerin Kölns auf der Münze trug.
Er war also ihr Lehrer in der Altertumskunde und bestimmt auch ein Impulsgeber.
Wallraf hat ihr seine Begeisterung und Freude von Anfang an mitgeteilt. Und für Sibylle Mertens war das wirklich der Schub fürs Leben. Sie hat später fast genauso querbeet gesammelt wie er. Nicht nur römische Münzen, für die sie dann tatsächlich eine Koryphäe wurde.
Wie kann man sich das vorstellen in der Zeit?
Sie war eine solche Fachkraft der Numismatik, dass selbst der Historiker Theodor Mommsen, der für seine „Römische Geschichte“ 1902 den ersten Literaturnobelpreis aller Zeiten bekommen hat, ihren Rat einholte. Auch über diese Linie hat Wallraf Einfluss gehabt. Zwei Jahrzehnte nach ihren Begegnungen hat sie Gemmen gesammelt.
Kleine, geschnittene Schmucksteine, Edelsteine.
Ihre Vorbilder waren die Schmuckstücke am Dreikönigsschrein, sie hat aber auch Waffen gesammelt, antike Kleinkunst, Bronzen. Später war eine ihrer Spezialitäten persische Zylinder. Das sind zierliche, mit Motiven geschmückte Walzen, die man übers Stempelkissen rollte, das ergibt Bilder, die zu den ältesten Kunstwerken der Menschheit gehören. Die Wiege zu all dem liegt in dem verspielten Unterricht bei Wallraf.
Wallraf selbst wuchs in einem Köln auf, das damals durchaus als rückständig bezeichnet werden konnte. Innerhalb der Stadtmauern gab es Landwirtschaft. Kühe und Schweine irrten durch die Gassen, vor den Häusern stapelte sich der Mist. Mit der Aufklärung war es nicht weit her. Was bewirkten die Franzosen damals für die Kölner?
Bürgerrechte erst auch für Protestanten, dann für Juden, schließlich auch Gewerbefreiheit, das heißt das Ende des mittelalterlichen Zunftwesens. Mit „La Lumière“ waren die Franzosen ja schon ein, zwei Generationen weiter. Vielleicht konnten die Kölner die überfälligen Reformen eher annehmen, weil sie von Katholiken kamen. Die Aufklärung in Deutschland war ja vornehmlich ein protestantisches Projekt.
Wie lässt sich die Stimmung in der Stadt zu Wallrafs Zeiten denn beschreiben?
Es gibt ganz tolle Reiseberichte, aus denen ich mich bedient habe. Die Reisenden wähnten sie sich hier im Freilichtmuseum, als ob die Zeit stillgestanden hätte. Man konnte am Stadtbild und der Größe der Gebäude noch die ehemalige Bedeutung ablesen. Die Kirchen und Kapellen, die wir ja nicht mehr kennen, aber von denen wir wissen, dass sie abgerissen wurden, standen alle dicht auf dicht. Die Mönche liefen herum, zugleich wurde der Aberglaube gepflegt. Es muss ein unglaubliches Gewusel in der Stadt gewesen sein, das Fremde jedoch als total aus der Zeit gefallen erlebten.
Es hat sich zu Wallrafs Lebzeiten dann aber in der Stadt einiges getan.
Er war tatsächlich Zeuge des Umbruchs. Er kannte in seiner Jungend noch den alten Schlendrian. Dann kamen die Franzosen und dann die Preußen. Das hat er alles noch erlebt – wie auch die Gründung der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Aber vor allem erlebte er die Säkularisation, also die Auflösung der Klöster und Stifte. All diese Schätze, die auf den offiziellen- und auf den Schwarzmarkt kamen. Dort hat sich Wallraf bedient, eingekauft und gerettet. Er hat den Aufbruch erkannt und sein großes Verdienst bei dieser Modernisierung ist ganz klar: Dass er beim Sammeln darauf geachtet hat, dass nicht alles in die Hände der Brüder Boisserée geraten durfte, die viele Kunstschätze nach München verschleppten.
Die berühmte Wallraf-Medusa gelangte bis nach Weimar in Goethes Haus.
Wenn man in sein Haus am Frauenplan kommt, über die berühmte breite italienische Treppe ins Obergeschoss geht, steht man auf der „Salve-Schwelle“. Beim Blick nach links sieht man eine großformatige Zeichnung dieser Monumentalbüste. Sie gelangte auf Antrieb von Sibylle Mertens nach Weimar. Die Kolossalbüste der Medusa stammte aus einem Tempel in Rom und war erst 1818 erworben worden. Und Goethe sammelte Medusen. Sibylle Mertens hat ihm über ihre große Liebe, Adele Schopenhauer, diese Zeichnung zukommen lassen, die Johann Adam Heinrich Oedenthal 1829 von der Originalbüste in Köln machte. Sie wusste, dass sie Goethe in große Freude versetzen konnte, wenn sie ihn von diesem Kunstwerk in Kenntnis setzt. Ihr Fernziel war ein Abguss. Das hat sie auch erreicht, aber es dauerte noch Jahrzehnte. Wallrafs Medusa wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, konnte aber in den 1980er Jahren dank des Abgusses, den Sibylle Mertens hat anfertigen lassen, zusammengesetzt werden und wieder im Römisch-Germanischen Museum bewundert werden.
Angela Steidele erzählte 2011 in „Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens“ über die Leidenschaft zwischen der Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer und der „Rheingräfin“ Sibylle Mertens-Schaaffhausen.
Mit „Aufklärung “ kam sie im vergangen Jahr auf die Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. Sie erzählt aus der Perspektive von Catharina Dorothea Bach, älteste Tochter von Johann Sebastian Bach über das kulturelle Leben Leipzigs im Zeitalter der Aufklärung.