Als erst vierte Regisseurin überhaupt gewann Justine Triet in diesem Jahr mit „Anatomie eines Falls“ die „Goldene Palme“ in Cannes.
„Sezierung von Paarbeziehungen“Film Festival Cologne: Warum Justine Triet von Sandra Hüller schwärmt
Zum Film kam Justine Triet über Umwege. Zuerst einmal studierte sie von 1998 bis 2003 Malerei und Fotografie in Paris. „Dabei lernte ich die deutschen Fotografen Barbara und Michael Leisgen kennen, deren Entwicklung der ‚Lichtkunst' mich faszinierte‘“, erinnert sie sich im Rundschau-Gespräch. „An der Filmkunst interessierte mich zunächst die Montage, die ich autodidaktisch erlernte, um meine seit 2004 entstandenen dokumentarischen Kurzfilme und Kurzspielfilme selbst schneiden zu können.“
Ihr Thema scheint sie schon mit ihrem zweiten („Victoria – Männer & andere Missgeschicke“,2016) und dritten Langspielfilm („Sibyl – Therapie zwecklos“,2019) gefunden zu haben: Im Mittelpunkt stehen mit einer Anwältin beziehungsweise einer Schriftstellerin mit chaotisch-neurotischem Berufs- und Privatleben starken Frauenfiguren.
Gebürtige Normannin
Im neuen Film „Anatomie eines Falls“ muss sich eine Schriftstellerin, die ihren Mann umgebracht haben soll, vor Gericht verantworten. „Ich interessiere mich sehr für die Sezierung von Paarbeziehungen und für die ihr innewohnende Gewalt“, erzählt die Regisseurin, die 1978 in Fécamp, einem kleinen Küstenort in der Normandie zur Welt kam.
Während die Belgierin Virginie Efira sowohl „Victoria“ als auch „Sybil“ spielte, vertraute Triet diesmal die Hauptrolle der deutschen Schauspielerin Sandra Hüller an.
„Zuerst einmal, ich verehre Virginie Efira, sie ist eine großartige Schauspielerin. Aber Sandra, die ja schon in ,Sibyl' eine Nebenrolle als genervte Regisseurin hatte, schien mir für diesen keinem Genre zuzuordnenden Film mit ihrer sowohl bodenständigen wie geheimnisvollen Aura die ideale Besetzung zu sein.“
Unfall, Selbstmord oder Mord?
In „Anatomie eines Falls“ geht es nicht nur darum, ob der Sturz von Sandras Mann vom Balkon seines Schweizer Hauses ein tragischer Unfall war? Oder Selbstmord? Oder gar Mord? Es gibt keine Zeugen, bis auf den 11-jährigen, blinden Sohn Daniel.
Selbst in der Gerichtsverhandlung, die den größten Teil des Films einnimmt, kommt die Wahrheit nicht ans Licht. Trotz der vielen Szenen dieser Ehe, die dem Kinopublikum zwar in Rückblenden präsentiert werden, müssen sich Zuschauerinnen und Zuschauer genau wie die Richterin ihr eigenes Urteil bilden. „Es ist wie ein Spiel: Du musst den Schlüssel finden“, fasst es Justine Triet prosaisch zusammen.
Was macht für die Regisseurin das Besondere an Sandra Hüllers Arbeit aus? „Sandra spielt immer, als sei sie es selbst, in einer wunderbaren Mischung aus komisch und ernst. Vor allem hat sie meine Vorgabe perfekt umgesetzt, dass ihre Figur nicht allzu sympathisch wirken sollte, damit sich das Publikum auf keinen Fall mit ihr identifiziert“, findet Justine Triet.
„Beeindruckend ist auch, mit welcher Detailversessenheit, bis hin zur Körpersprache, sie sich in den Charakter ihrer Figur hineinversetzt. Dabei wirkt sie, wenn man sie zwischen den Takes beobachtet, eher schüchtern. Aber wenn sie dann spielt, ist sie einfach entwaffnend.“
Auch der 13-jährige Milo Machado-Graner, der den Sohn spielt, bekommt ein Sonderlob der Regisseurin: „Mein Co-Autor Arthur Harari und ich haben ihn in bei seiner Zeugenaussage extra reflektierter wirken lassen als den eher holzschnittartig gezeichneten Staatsanwalt, der lediglich die Handlung vorantreiben soll. Das hat Milo geradezu ,erwachsen' gelöst. Nur ,weinen' musste er mühsam lernen,“ erinnert sie sich an die Dreharbeiten.
Hommage an das alte Hollywood
„Anatomie eines Falls“, der nicht nur vom Titel her an Otto Premigers Gerichtsdrama „Anatomie eines Mordes“ erinnert, ist für Justine Triet auch eine Hommage an die handwerkliche Meisterschaft des alten Hollywood: „Ich langweile mich nie in diesen sogenannten altmodischen Filmen. Die ästhetische Handschrift ist sehr wichtig für mich. Darum soll man auch sehen, dass ,Anatomie eines Falls' handwerklich gut gemacht ist.“ Und das ist er.