Als das Blut zu spritzen beginnt, hat Joo Won Shin ihren großen Auftritt. „Fly me to the moon“ singt die koreanische Sängerin mit engelsgleicher Stimme.
Menschen rennen, panisch, von Todesangst getrieben. Erfolglos, denn wer sich zum falschen Zeitpunkt bewegt, den erschießt die riesige Puppe am anderen Ende der bunt dekorierten Halle.
In Zeitlupe sacken die getroffenen Körper in sich zusammen. Und dazu die zarte Stimme auf der Audiospur. Was auf den ersten Blick irritierend klingt, wirkt dennoch irgendwie vertraut.
Der große Kontrast zwischen Bild und Ton und die Ästhetisierung von Gewalt ist bekannt aus vielen Hollywood-Streifen. Quentin Tarantino hat in dieser Disziplin Maßstäbe gesetzt.
Erfolgreichste Netflix-Serie
„Squid Game“ kommt nicht aus Hollywood, sondern aus Südkorea und ist seit Mitte Oktober die erfolgreichste Netflix-Serie aller Zeiten.
Koreaner sind stolz auf den Erfolg
Jinhee Choi ist Geschäftsführerin der Kölner Galerie Choi & Lager – und ihre Wurzeln liegen in Südkorea. „Ich glaube, dass die Menschen dort den Erfolg der Serie mit sehr viel Stolz feiern“, sagt sie. „Alle Koreaner freuen sich, dass die koreanische Filmszene im Westen immer mehr Aufmerksamkeit erlangt“.
Die Serie stelle für Choi weniger Sitten und die individuelle Kultur der Koreaner dar, sondern eher Züge der Gesellschaft. „Es werden viele soziale Grenzen angesprochen, wie die Kritik an Geldgier, Kapitalismus und Korruption und viele weitere Probleme, die einem humanen Miteinander entgegenstehen.“
Diese Probleme gebe es zwar auf der ganzen Welt, die Kluft zwischen sozial schwachen und starken sei in Korea aber gravierender als zum Beispiel in Deutschland. (sim)
In den ersten vier Wochen nach Veröffentlichung haben laut Netflix 142 Millionen Abonnenten die neunteilige Serie geschaut. Das Internet feiert das blutige Spiel um Leben und Tod, bei dem 465 hochverschuldete Kandidaten in Kinderspielen um einen Millionenpreis wettstreiten.
Eine südkoreanische Produktion, die international voll einschlägt, klingt auf den ersten Blick ungewöhnlich – auch nachdem der koreanische Film „Parasite“ 2020 als erster nicht-englischsprachiger Film den Oscar in der Kategorie „Bester Film“ holte.
Doch bei näherer Betrachtungsweise ist der Erfolg vielmehr ein perfektes Beispiel für die Strategie, die Netflix schon seit Jahren vorantreibt. „Der Erfolg ist kein Zufall“ sagt der Medienwissenschaftler und Serienexperte Sven Grampp von der Universität Erlangen-Nürnberg. Netflix verfolge seit Jahren eine Lokalisierungsstrategie.
2017 startete der Streaming-Anbieter die deutsche Serie „Dark“ und die spanische Serie „Haus des Geldes“, im Frühjahr 2021 die französische Serie „Lupin“. In „Dark“ spielt die deutsche Musik der 80er Jahre eine große Rolle, genau wie das Atomkraft-Thema – eher lokalspezifische Dinge.
Das zieht zum einen lokale Zuschauer in das Netflix-Universum. „Und dennoch ist alles auf Globalität ausgerichtet“, sagt Grampp.
Für jeden etwas dabei
Beim südkoreanischen „Squid Game“ ist es nun das gleiche Prinzip. Der Zuschauer bekommt zwar kurze Einblicke in die koreanische Kultur und Gesellschaft. Auf der anderen Seite ermöglicht die Serie Zuschauern aus aller Welt einen leichten Anschluss.
Die Produktion setzt jedem Zuschauer irgendetwas vor die Nase, das ihm bekannt vorkommt und ihn ins Geschehen zieht. So wie der durch Frank Sinatra bekannte Song „Fly me to the moon“, der beim Gemetzel in der ersten Folge erklingt. Oder die typische amerikanisch inspirierte Erzählstruktur mit einer unerwarteten Wendung am Ende.
Oder die Kinderspiele, die zwar nur in Korea bekannt sind, aber trotzdem auch europäische Schulhof-Erinnerungen wecken. Grampp nennt das eine „unendliche Hyperkonnektivität“.
Anschlussfähig ist die Serie in beide Richtungen. Die roten Overalls und die schwarzen Masken der Bewacher sowie die grünen Jogginganzüge der Kandidaten sind bereits Bestseller in deutschen Karnevalsläden.
Das Gebäck, um das es im zweiten Spiel geht, ist überall ausverkauft, das Internet ist voll von Anspielungen auf den Netflix-Hit und die koreanischen Spiele werden in Europa nachgeahmt.
Andere asiatische Serien profitieren
Der Erfolg ebnet auch anderen asiatischen Produktionen den Weg. Die südkoreanischen Serien „Extracurricular“ über einen Schüler mit kriminellem Doppelleben oder das Drama „My Name“ werden im Netz plötzlich heiß diskutiert.
Bereits im Frühjahr veröffentlichte Netflix die japanische Serie „Alice in Borderland“, in der es ebenfalls um tödliche Spiele geht. Der große Erfolg blieb zunächst aus, doch nun stürzen sich die „Squid Game“-Fans auf die Produktion.
Dass das Spiel um Leben und Tod Menschen fasziniert, ist nicht neu. „Solche Formen schaffen eine unglaublich gute Plattform zum Erzählen“, sagt Grampp. „Was gibt es für einen größeren Konflikt als den zwischen Leben und Tod? Dass es sowas häufiger gibt, finde ich völlig nachvollziehbar.“
Bereits 1970 gab es den Film „Das Millionenspiel“, in dem ein Kandidat eine Woche lang vor Auftragskillern flüchten muss. In eine ähnliche Richtung ging 1987 „Running Man“ mit Arnold Schwarzenegger. Einen Riesen-Erfolg feierte zwischen 2012 und 2015 der Kino-Vierteiler „Die Tribute von Panem“.