Paul Lynch beschreibt ein dystopisches Irland, in dem eine Familie brutal und unerbittlich mit der Realität eines totalitären Regimes konfrontiert wird.
„Das Lied des Propheten“ von Paul LynchIn diesem Roman wird Irland zur Diktatur
Nach einem harten Tag träumt Eilish Stack davon, mit dem Dämmerlicht im Garten zu verschmelzen. Doch dann energisches Klopfen an der Haustür, vor der zwei Zivilbeamte der irischen Geheimpolizei stehen. Deren Höflichkeit verdeckt kaum die Härte des neuen Regimes, das Eilishs Mann Larry als wichtigen Funktionär der Lehrergewerkschaft aufs Korn nimmt. Nach diesem Hausbesuch spürt sie: „Der dunkelnde Garten birgt keine Wünsche mehr, denn etwas von diesem Dunkel ist ins Haus gekommen.“
Dennoch glaubt die Familie Stack anfangs noch an Bürger- und Menschenrechte, doch dieses Unrechtssystem macht keine Gefangenen. Sehr rasch wird in Dublin alles schlimmer werden: anonyme Anschuldigungen, Verhaftungen, niedergeknüppelte Demonstrationen, Internierungslager und tote Folteropfer. Paul Lynchs Roman „Das Lied des Propheten“ holt das Grauen eines faschistischen Terrorstaats, das man meist in beruhigender Ferne verortet, mitten ins westliche Europa.
Brutalität der neuen Machthaber
Zunächst hält der 1977 in Dublin geborene Autor größtmöglichen Abstand zu den Mustern des Katastrophenkinos, das vor allem äußere Verwüstungen zeigt. Durch Eilishs Augen sehen wir vielmehr, wie sich die Angst selbst in harmlose Alltagsroutinen schleicht.
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Nach Larrys Verschwinden muss sie sich allein um die vier Kinder kümmern: den ältesten Sohn Mark, dem die Einberufung droht, die pubertierende Molly, den trotzigen Bailey und das Baby Ben. Dazu der leicht demente Vater Simon, ein Querkopf, der in seinen wachen Momenten die Brutalität der neuen Machthaber durchschaut.
Überhaupt scheinen alle besser zu wissen, was zu tun wäre, als die Einzelkämpferin an der Familienfront. Schwester Áine rät dringend zur Flucht nach Kanada, denn „die Geschichte ist eine stumme Liste derer, die nicht wussten, wann sie gehen mussten“.
Leichter gesagt als getan, Eilish braucht ihren Job als Mikrobiologin und will die Kinder nicht aus ihrem vertrauten Umfeld reißen – obwohl sie ihnen kaum erklären kann, „dass der Staat, in dem sie leben, zum Monster geworden ist“. In immer dringlicheren Satzkaskaden beschwört Lynch die anschwellende Panik seiner Heldin – „der lange Sturz ihres Herzens durch den Körper, und es fällt weiter“...
Auch den Lesern verweigert die fast absatzlose Radikalprosa jegliche Erholungspause. Man wird Zeuge eines endlosen Martyriums, das auf jeder scheinbar höchsten Eskalationsstufe die Schmerzgrenze nochmals verschiebt.
Keine Pause für die Leser
Irgendwann kommt der Bürgerkrieg zwischen Regime und Aufständischen auch in Eilishs Viertel, und in der wohl schockierendsten Szene muss die Mutter ihren schwerverletzten Sohn Bailey durch Granatenhagel und Sniper-Beschuss ins Krankenhaus bringen.
Gewiss ähnelt Paul Lynchs Totalitarismus-Fresko in Grundzügen den dystopischen Vorbildern von Anthony Burgess („Uhrwerk Orange“), Margaret Atwood („Der Report der Magd“) oder George Orwell („1984“). Doch die bis ins Unerträgliche, buchstäblich bis auf die Knochen getriebene Gewalt erinnert am ehesten an den amerikanischen Giganten Cormac McCarthy („Die Abendröte im Westen“, „Die Straße“).
Man kann diesen wahrhaft überwältigenden Roman angesichts erstarkender rechtsnationaler Parteien gewiss als aktuelles Polit-Menetekel sehen. Wichtiger scheint indessen der empathische Blick auf jene Menschen, die sich in existenzieller Notwehr zwischen Ausharren und Flucht entscheiden müssen.
Auch Eilish, die man sich als kriegsversehrte Käthe-Kollwitz-Gestalt vorstellen darf, steht irgendwann vor dieser Alternative. Dabei ist sie ja schon todmüde. „Sie schließt die Augen und sieht, wie viel vernichtet worden ist, sieht ihre Liebe und das Wenige, was geblieben ist, nur noch ein Körper ist da, ein Körper ohne Herz, ein Körper mit geschwollenen Füßen…“
Paul Lynch: Das Lied des Propheten. Roman, aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Klett-Cotta, 311 S., 26 Euro.
Lesung in Bonn: 17. 9., 19 Uhr, Haus der Bildung,