Beim ZDF-Talk von Markus Lanz ging es am Dienstagabend mal wieder um Corona. Insbesondere nach den neuen Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz zu einer „Osterruhe“ gab es Bedarf zur Nacharbeitung. Zu Gast waren auch die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim und der Virologe Hendrik Streeck. Dabei kam es gegen Ende der Sendung zu einem intensiven Schlagabtausch.
Moderator Markus Lanz, bei dem Streeck Dauergast zu sein scheint, geht direkt in der Vorstellungsrunde auf einige falsche Prognosen des Bonner Virologen aus der Vergangenheit ein – vermutlich, um dessen Kritikern direkt Wind aus den Segeln zu nehmen. So habe Streeck beispielsweise 2020 vorhergesagt, dass Corona nicht mehr sei als ein harmloser Schnupfen oder dass keine dritte Welle drohe. Das habe Streeck längst zurückgenommen, und überhaupt müsse man ja nach vorne schauen, so Lanz.
Zuletzt war Streeck im ZDF mit der Dokumentation „Corona – Pandemie ohne Ende“ präsent, in der er moderierte und seine Studien zur Kappensitzung in Gangelt vorstellte, die sich zum ersten Corona-Hotspot in Deutschland entwickelte.
Das könnte Sie auch interessieren:
Zunächst jedoch gibt es einen Rückblick auf die Marathon-Verhandlungen der Ministerpräsidenten. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil rechtfertigt die Beschlüsse gegen „Welt“-Journalist Robin Alexander. Weil spricht von einer gefährlichen Entwicklung, sagt aber zum Thema Föderalismus auch: „Es gibt in Europa kaum ein anderes Land, bis auf ein paar Ausnahmen, das insgesamt besser durch die Pandemie gekommen ist als Deutschland.“ Diese Aussage, obwohl immer wieder in Talkshows von Politikern gehört, überrascht jedes Mal erneut im Angesicht von 75.000 Menschen, die hierzulande im Zusammenhang mit dem Coronavirus gestorben sind.
Nguyen-Kim erklärt exponentielles Wachstum
Nguyen-Kim wirkt müde, als sie erklärt, dass genau die jetzt vonstatten gehende Pandemie-Entwicklung schon lange von Wissenschaftlern vorausgesagt wurde und nicht überraschend kam, wie einige immer noch glauben machen wollen. Sie erklärt geduldig, wie exponentielles Wachstum zu verstehen ist: „Alles, was wir unternehmen – Lockdown-Maßnahmen, Impfen und Testen – ist nur eine Bremse. Es ist wie beim Auto auch. Wenn ich jetzt mit demselben Maßnahmen-Paket, also derselben Bremskraft, bei 200 km/h bremse, dann komme ich natürlich nicht so weit wie bei 30 km/h.“ Man habe ein „bisschen gepennt“. Rein emotional würde sie dem Sommer und den verpassten Chancen seitdem hinterhertrauern.
Streeck stimmt Nguyen-Kim zu und plädiert auch für eine schnellere Umsetzung der Maßnahmen. Er sagt, man müsse aber auch neue Hygienekonzepte überall dort ausprobieren, wo Menschen in größerer Zahl aufeinander treffen. Man wisse einfach zu wenig über die Ansteckungsorte und -wege. Nguyen-Kim widerspricht und holt Streeck auf den Boden der Tatsachen zurück. Es sei unrealistisch zu glauben, dass bei Treffen in privaten Räumen immer die Masken aufblieben und sich alle Menschen strenge Kontaktbeschränkungen auferlegen würden. Öffentliche Veranstaltungen könnte nicht das Bedürfnis nach privaten Kontakten ersetzen.
Streitpunkt Schulen und Corona: „Das kann man sich doch nicht schönreden“
Die Wissenschaftsjournalistin kann nicht verstehen, warum man Schulen und Kitas geöffnet hat, obwohl noch nicht ausreichend getestet werde. Die Dynamik des Infektionsgeschehens dort solle man nicht unterschätzen, das werde allen „auf die Füße fallen“. „Sorry, aber da machen wir andere Erfahrungen, was die Schulen angeht“, wirft Weil ein. Aber man sei doch zwei Wochen in Verzug, was die Infektionszahlen angehe, zeigt sich Nguyen-Kim fassungslos, die Zahlen würden bald schnell steigen. „Es ist unumstritten, dass Kinder sich auch anstecken, dass sie das mit nach Hause bringen“, und die meisten Älteren seien noch nicht geimpft, so Nguyen-Kim. „Das kann man sich doch nicht schönreden, dass Schulen und Kitas ein Risikobereich sind!“ meint sie.
Hendrik Streeck darf zum Ende der Sendung noch einmal auf die von ihm immer wieder geforderte Langzeitstrategie eingehen, die es aber noch immer nicht gebe. Nguyen-Kim meint, die Basis für jede Pandemie-Strategie müsse erst einmal die Mathematik sein. Darauf beruhend müssten dann die politischen Entscheidungen getroffen werden. Wenn man allerdings an der Basis schon abweiche, müsse man sich nicht wundern.
Massive Vorwürfe von Nguyen-Kim an Streeck: „Schrecklich naiv“
Dann geht es um den angeblichen Streit der Wissenschaftler untereinander, und Streeck bekommt von Lanz die Gelegenheit, seine früheren falschen Prognosen und sein Plädoyer für mehr Öffnungen zu erklären. Es werde nur in die Vergangenheit geschaut, und die Revision der eigenen Erkenntnisse werde von der Öffentlichkeit mit Häme und Hetze begleitet, zeigt sich Streeck leicht angefressen. Die Medien würden die Dialektik der Wissenschaft oft nicht verstehen.
An diesem Punkt steigt Nguyen-Kim ein: Ob er denn wirklich die Schuld für die Polarisierung bei den Medien sehen würde, will sie von Streeck wissen. Er selber sei doch im Zusammenhang mit der Heinsberg-Studie bewusst an die Öffentlichkeit getreten, spielt Nguyen-Kim auf die Storymachine-Affäre an. „Entweder sind Sie, mit Verlaub, schrecklich naiv und haben sich instrumentalisieren lassen, oder sie haben sich doch bewusst politisch eher auf die Seite 'Öffnung' gestellt.“ Falls er aber immer wieder missverstanden würde, sollte sich Streeck doch besser in seiner Kommunikation beraten lassen. Der Virologe sagt, er sei damals in der Tat naiv gewesen, lasse sich aber inzwischen medial beraten.
Nguyen-Kim wirft Streeck aber auch wissenschaftlich unsauberes Arbeiten vor, weil er im Nachhinein die Zahl der Toten in Heinsberg korrigieren musste – das habe er der Öffentlichkeit aber niemals explizit erklärt. „Da reden Sie sich doch jetzt raus!“ regt sich die Journalistin über seine Erklärung auf. Streeck meint, es gehe um zwei unterschiedliche Zahlen: die für die kleine Gemeinde Gangelt und die für den Kreis Heinsberg, das sei eindeutig. Am Ende unterbricht Lanz den Streit und beendet die Sendung.
Nguyen-Kim möchte die Diskussion allerdings nicht unvollendet stehen lassen und meldet sich am Mittwoch mit einer längeren Analyse der Zahlen von Heinsberg und Gangelt bei Twitter zu Wort.