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„Kinder, schafft Neues!“Taugen die AR-Brillen beim aufgepeppten „Parsival“ in Bayreuth?

Lesezeit 5 Minuten
Parsival Zaubermädchen 2023

„Parsival“: Der Zaubergarten ist ein Hippie-Paradies mit viel Barbie-Rosa.

Für seine Bayreuth-Inszenierung setzt US-Regisseur Jay Scheib auf AR-Brillen. 330 Besucher durften das Stück durch eine solche Brille betrachten.

In den Siebzigern waren Laser das ganz heiße Ding. In den Achtzigern sollten Hologramme ganze Bühnenbilder ersetzen. Nun soll die AR-Brille die Bühnen erobern. Dafür gibt es vielversprechende Ansätze.

Und wo wäre das besser eingesetzt als bei Richard Wagners Musikdramen mit ihren bühnensprengenden Visionen? Das Wort „Kinder, schafft Neues!“ des Komponisten liefert eine Ermunterung, der Satz „Zum Raum wird hier die Zeit“ aus „Parsifal“ könnte als theoretische Grundlage dienen.

Schwarz-grüne Eintracht

Im Bayreuther Festspielhaus dürfen heuer 330 Besucher das Bühnengeschehen von Jay Scheibs Neuinszenierung durch eine solche 1000 Dollar teure Brille betrachten. Sie will erweiterten Durchblick mit zusätzlichen visuellen Effekten liefern. Aber das Ergebnis bleibt trotz hoher Kosten und einem enormen technischen Aufwand enttäuschend.

Es will etwas heißen, wenn sich Schwarz und Grün in einem Punkt einig sind. „Ich bin ohne die Brille mehr in die Inszenierung hineingekommen“, sagte die Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Markus Söder hatte seine Brille „kaum angehabt“. Er fand es ohne „ehrlich gesagt besser“, sagte der bei Gaming-Technik bekanntermaßen begeisterungsfähige Ministerpräsident.

Parsival 2023 AR Motiv

Eines der AR-Motive im „Parsival“.

Tatsächlich erinnern die Bayreuther Bilderzuspielungen im Vergleich zu dem, was im Kino oder in Spielen dank Computer Generated Imagery (CGI) Alltag ist, an den guten alten Bildschirmschoner. Tauben und Schwäne fliegen scheinbar durch den Zuschauerraum, im dritten Akt schwimmt allerlei Müll von der Plastiktüte bis zu alten Autobatterien vor den Augen des Brillenträgers vorbei.

Höhepunkt des visuellen Spektakels ist der einstürzende Zuschauerraum des Festspielhauses am Ende des zweiten Akts. Und ganz zuletzt schwebt wie anno 1882 die Gralstaube über Parsifal und den übrigens Erlösten.

Man kann mit der Brille den Kopf seitwärts und nach unten schweifen lassen. Ein großer Vordermann wirkt weniger störend, und Wagner-Verächter können bei den langen Gurnemanz-Erzählungen die Umdrehungen des scheinbar im Zuschauerraum schwebenden Monds betrachten.

Verdopplung auf symbolischer Ebene

Künstlerisch bringt die Brille nicht viel. Die Bilder verdoppeln das Bühnengeschehen auf einer symbolischen Ebene. Ein Höchstmaß an Komplexität wird in der Gralsszene erreicht, wenn sich bei der Arie des Amfortas eine Schlange in den Schwanz beißt, um die Giftigkeit der ewigen Wiederholung des Rituals auszudrücken. Das ist etwas, aber letztendlich doch zu wenig.

Leider hat Jay Scheibs Inszenierung auch sonst nichts zu erzählen. Parsifal scheint die Frucht der Liebe zwischen Gurnemanz und Herzeleide zu sein, die als Kundry-Double durch die Aufführung geistert. Der Gral ist ein Kristall, über den das mit Wasser verdünnte Blut des Amfortas gegossen wird. Und irgendwie und ganz diffus scheinen David Lynchs Filme „Dune“ und Seltene Erden und Bergwerke den Regisseur stark zu beschäftigen. Das ist aber unrunder als die legendäre Biogasanlage aus Sebastian Baumgartens missglücktem „Tannhäuser“ von 2011.

Das alles ereignet sich in stadttheaterhaften Arrangements, die ein wenig an Wolfgang Wagners letzte Inszenierungen gemahnen. Der Zaubergarten ist ein Hippie-Paradies mit viel Barbie-Rosa (Bühne: Mimi Lien). Und wenn in den Verwandlungsmusiken der Raum zur Zeit wird, passiert weder auf der Bühne noch in den Brillen sonderlich Aufregendes.

Hervorragende Besetzung der Hauptpartien

Man hält sich besser an die Musik. Die kurzfristig für einen Teil der Vorstellungen eingewechselte Elina Garanča erweist sich als intensivste Kundry seit Waltraud Meier. Ihre oft sehr helle Mezzo-Stimme hat an Volumen gewonnen. Die liedhafte Herzeleide-Erzählung gestaltet sie so intensiv wie die großen Ausbrüche, die Femme-Fatale-Erotik und die Zerrissenheit.

Parsival Bayreuth 2023

Beieindruckendes Paar: „Kundy“ Elina Garanča und „Parsiva“l Andreas Schager

Mit dem gegen Ende der Proben für Joseph Calleja eingewechselten Andreas Schager liefert sich die Sängerin eine finale Erlösungsschlacht, wie sie Bayreuth schon länger nicht erlebt hat und die per Live-Video auf den Horizont projiziert wird.

Schager singt heldisch laut und – soweit möglich – auch einigermaßen subtil. Ein wenig mehr geistige Durchdringung und weniger Naturburschentum könnte ihm allerdings nicht schaden.

Der Bassist Georg Zeppenfeld muss nicht mehr gelobt werden: Er war bereits der souveräne Gurnemanz der Inszenierung des Jahres 2016, seine Ausflüge ins Heldenbaritonfach sind aber nicht spurlos an der Stimme vorübergegangen. Und ihm droht, wenn die Gestaltung hält, was das Material verspricht, demnächst ernste Konkurrenz durch den Bassisten Tobias Kehrer (Titurel).

Nicht ganz einzusehen ist, wieso angesichts des breiten Angebots herausragender junger Bariton-Interpreten der Amfortas in Bayreuth ausgerechnet mit einer typischen Klingsor-Stimme besetzt werden muss. Derek Welton singt seine drei Szenen ordentlich, aber ohne besondere Farben oder gar Nuancen und könnte mühelos mit Jordan Shanahan (Klingsor) die Rolle tauschen.

Kunststück des Dirigenten

Es ist kein pures Vergnügen, als Dirigent unter den besonderen Bedingungen des sehr tiefen Bayreuther Orchestergrabens zu debütieren. Pablo Heras-Casado gelang das Kunststück, über die reine Klangregie hinaus eine sehr persönliche Interpretation zu liefern, die vor allem im ersten und dritten Akt das Elegisch-Schmerzvolle der Musik betonte.

Das alles wirkte subtil mit teilweise sehr langsamen Tempi ausgehört. Im zweiten Akt ließ sich der Dirigent von den Solisten mitreißen – ein Gegensatz, der in der Partitur angelegt ist. Dann dominierten wieder die gedeckten Farben,

Die wenigen Stellen, die Glanz, Kraft und Wucht verlangen, wirkten vorläufig noch ein wenig unterbelichtet, aber entwicklungsfähig. Heras-Casado hat zwar in Spanien bereits einen „Ring“ dirigiert, auf der großen Wagner-Bühne ist er eine neue Farbe.

Auch die Brillen sollte man nach diesem Fehlgriff nicht vorschnell verdammen. Aber es bräuchte für ihren Einsatz ein künstlerisches Müssen, nicht nur die Möglichkeit als Spielerei. (Robert Braunmüller)

Weitere Vorstellungen am 30. Juli, 12., 15., 19., 23. und 27. August, eventuelle Restkarten bayreuther-festspiele.de