„Anatevka“ in DüsseldorfMusical-Klassiker als properes Museumsstück

Lesezeit 4 Minuten
Anatevka
Jerry Bock (Musik), Joseph Stein (Buch), Sheldon Harnick (Gesangstexte)
Jüdische Familiengeschichte mit Broadwaycharme
 
Musikalische Leitung: Harry Ogg, Christoph Stöcker, Katharina Müllner
Inszenierung: Felix Seiler
Bühne: Nikolaus Webern
Kostüme: Sarah Rolke
Chorleitung: Patrick Francis Chestnut
Licht: Volker Weinhart
Choreographie: Danny Costello
Dramaturgie: Juliane Schunke
 
Auf dem Bild
Anna Sophia Theil (Zeitel), Susan Maclean (Golde), Tänzer
 
Foto: Sandra Then

„Anatevka“ in der Düsseldorfer Oper am Rhein.

Vor 60 Jahren wurde das Musical Anatevka am Broadway uraufgeführt. Für die Inszenierung in der Düsseldorfer Oper am Rhein scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. 

Seit seiner Broadway-Premiere im September 1964 zeigt das Musical „Anatevka“, wie die Bewohner des gleichnamigen Dorfes Drangsal und Elend mit einer gehörigen Portion Humor begegnen, auch wenn dieser dann und wann am Galgen hängt.

An der Düsseldorfer Oper am Rhein feierte jetzt eine neue Inszenierung ihre frenetisch bejubelte Premiere.

Angst vor Pogromen

Im Dorf Anatevka leben Juden und Russen nebeneinander, aus umliegenden Ortschaften hören die Bewohner immer wieder von Übergriffen und Pogromen – die Gedanken daran, versuchen sie zu ignorieren. Den armen Milchmann Tevje (Andreas Bittl) plagen aber vielmehr die Sorgen um die Heiratspläne seiner Töchter (Anna Sophia Theil, Kimberley Boettger-Soller und Mara Guseynova), die so gar nicht mit den Vorstellungen von ihm und seiner Frau Golde (Susan Maclean) einhergehen.

So schwankt das Familienoberhaupt zwischen dem Festhalten an Traditionen und den Forderungen seines übergroßen Herzens.

Ohne Fehl und Tadel

Unterm Strich ist es ein Abend ohne Fehl und Tadel: Das Ensemble singt und spielt sich mit Freude durch die Geschichte, getragen von den Düsseldorfer Symphonikern unter der Leitung von Harry Ogg, der auf Wohlklang setzt.

Regisseur Felix Seiler bringt dazu eine Inszenierung auf die Bühne, die das Prädikat „frisch aus dem Musical-Museum“ verdient: Semi-historische Kostüme mit Folklore-Flair (von Sarah Rolke) treffen auf ein Bühnenbild (von Nikolaus Webern), dessen überdimensionale weiße Stoffstücke das Dorf versinnbildlichen sollen.

Das ist alles hübsch anzusehen und anzuhören, aber man würde sich inhaltlich und musikalisch ein paar Ecken und Kanten wünschen.

Warum wird auf Deutsch gesungen?

Problem Nummer eins: Während heutzutage niemand mehr auf die Idee käme, eine etwa italienische Oper auf Deutsch zu singen, wählt man für diese „Anatevka“ die 1968 für die hiesige Erstaufführung in Hamburg entstandenen Übertragung.

Diese hat das Manko, dass oftmals das Stakkatohafte des Originals verloren geht. Das englische „tradition“ hat einen anderen Rhythmus als „Tradition“ (so der Titel der Eröffnungsnummer). „Matchmaker, matchmaker“ hat einen anderen Zug als „Jente, oh Jente“. Und die Klezmer-Anklänge im Hit der Show, „If I were a rich man“, gehen verloren, wenn wie hier der Tevje „Wenn ich einmal reich wär“ singt.

Singender Schauspieler versus Opernstimmen

Dazu kommt, dass man für den Tevje mit Andreas Bittl zwar einen gesanglich soliden Schauspieler besetzt, die restlichen Partien aber mit klassischen Opernstimmen. Da kann Bittl selbstredend nicht mithalten.

Die musikalische Umsetzung durch das Orchester klingt eher nach Stadttheater denn nach Schtetl, das Resultat kommt einer Operette näher als einem Musical.

Verzicht auf aktuelle Bezüge

Auch die Inszenierung von Felix Seiler wirkt nicht, als sei sie im Jahr 2024 entstanden: ein Jahr, in dem Antisemitismus erschreckend alltäglich geworden ist und an den verschiedensten Orten überall auf der Welt Menschen drangsaliert und verjagt werden, weil sie anders glauben, anders denken, anders lieben als die Mehrheitsgesellschaft.

All das steckt in „Fiddler on the Roof“ (so der Originaltitel), genauso wie der Konflikt zwischen Eltern und Kindern, in dem seit jeher sich verändernde Werte und Bedürfnisse aufeinanderprallen.

Ohne Drama, ohne Gänsehaut

Die zeitlosen Themen in Kombination mit den pfiffig-peppigen Liedern von Jerry Bock und Sheldon Harnick und dem mit viel jiddischem Humor gewürzten Buch von Joseph Stein haben „Anatevka“ über die Jahre zu einem Klassiker gemacht. Und es garantiert ein Publikum, das zu großen Teilen sicher auch noch Ivan Rebroffs TV-erprobtes „Wenn ich einmal reich wär“ im Ohr hat.

Anscheinend will man genau dieses nicht vor dem Kopf stoßen. Muss man auch nicht. Aber ein bisschen mehr als eine Präsentation als ordentlich konserviertes Ausstellungsstück hätte dieses wunderbare Musical schon verdient.

Unter anderem auch den Mut zum Drama: Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner im Finale beklagen, dass sie ihre Heimat verlassen müssen, versucht Seiler daraus einen intimen Moment zu machen, statt das Publikum mit großem Gefühlskino und Gänsehaut nach Hause zu schicken.

3 ¼ Stunden (inkl. Pause). Wieder am 26.5, 18.30 Uhr, am 29./31.5. und 8./15./18./22.6., 19.30 Uhr sowie am 2.6., 15 Uhr.

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