In der Spezialambulanz Adipositas der Uniklinik Köln werden extrem übergewichtige Kinder und Jugendliche behandelt.
Uniklinik KölnWie eine Spritze übergewichtigen Kindern hilft
Jedes fünfte Kind einer Schulklasse ist übergewichtig, und auch die Zahl der extrem Übergewichtigen ist gestiegen - noch mal mehr während der Corona-Pandemie. Die Fachwelt spricht längst von einer „Adipositas-Epidemie“. In der Spezialambulanz Adipositas an der Uniklinik Köln werden pro Quartal rund 200 Kinder und Jugendliche behandelt, das sind 800 im Jahr.
Einer von ihnen ist Simon. Seinen Namen haben wir für diesen Text geändert. Simon ist 15 Jahre alt und geht in die zehnte Klasse einer Kölner Realschule. In seiner Freizeit spielt er Klavier, dreimal in der Woche geht er ins Fitnessstudio. Mit dem Thema Ernährung kennt er sich gut aus: Simon weiß genau, was und wie viel er essen darf. Kein Weißmehl, dafür Vollkornprodukte. Gemüse und Obst, aber keine Softdrinks. Und trotzdem wiegt Simon 135 Kilo. Wie ist das möglich?
Rund 1000 Gene begünstigen die Adipositas
Simons Mutter merkte schon nach dem ersten Lebensjahr, dass etwas nicht stimmte. „Sein Gewicht ging rapide in die Höhe. Aber man hat uns lange nicht ernst genommen“, erinnert sie sich. Stattdessen wurden sie immer wieder zur Ernährungsberatung geschickt. „Weniger essen, mehr Bewegung, mehr Salat“, zählt Simon die Tipps auf, die von allen Seiten kamen. Essen ist in der Familie jeden Tag ein Thema, seit fast 15 Jahren. Erst in der Spezialambulanz der Uniklinik konnte Simon wirklich geholfen werden.
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Adipositas gilt als chronische Erkrankung und kann eine Vielzahl von begleitenden Gesundheitsproblemen hervorrufen: Bluthochdruck, Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs. Bei 97 Prozent der adipösen Kinder und Jugendlichen sind die äußeren Lebensumstände verantwortlich für das extreme Übergewicht, in Kombination mit rund 1000 Genen, die es begünstigen. „Die Vorliebe für fettiges Essen und wie man sich bewegt, das ist alles genetisch veranlagt“, sagt Dr. Miriam Jackels, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und die Leiterin der Spezialambulanz für Adipositas. Doch als sie 2018 Simon als Zehnjährigen kennenlernte, war schnell klar, dass hinter dem Gewicht etwas anderes steckt: Er gehört zu den drei Prozent der Kinder und Jugendlichen, bei denen die Adipositas eine rein genetische Ursache hat. Bei Simon ist die Funktion im Hypothalamus gestört, der übergeordneten Region der Hypophyse, eine erbsengroße Drüse an der Basis seines Gehirns. Im Hypothalamus wird unter anderem die Sättigung reguliert.
„Wenn man das früher erkannt hätte, wären manche Dinge in der Vergangenheit anders gelaufen“, glaubt Simons Mutter: die schwierige Grundschulzeit, das Nicht-Mithalten-können beim Sportunterricht, die Stigmatisierung im Alltag. „Familie und Freunde wissen natürlich, dass er an einer Krankheit leidet, aber von außen sind die Vorurteile da - dass er faul ist oder zu viel isst“, sagt sie. „Sie werden nicht ausgesprochen, aber sie sind da“. Simon sagt, er blende die Kommentare oder Sprüche über sein Gewicht einfach aus. „Er kennt es ja nicht anders“, sagt seine Mutter.
„Wir hoffen, dass die Stigmatisierung in der Gesellschaft abnimmt“, sagt Miriam Jackels - auch mithilfe neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, die ebenfalls in der Spezialambulanz Adipositas für Kinder und Jugendliche gewonnen wird. Sie bietet den jungen Patientinnen und Patienten eine individuelle, interdisziplinäre Betreuung, angegliedert an das Sozialpädiatrische Zentrum (SPZ): Neben der ärztlichen Betreuung in allen nötigen Fachrichtungen, die auch Folgeerkrankungen behandeln, und einer humangenetischen Abklärung sind Psychologen, Sozialarbeiter und Ernährungsberater im Einsatz. Auch eventuelle Essstörungen werden abgeklärt. Die Ambulanz ist aktuell weiter im Ausbau, neue Stellen wurden geschaffen. „Adipositas ist in der Gesellschaft auf dem Vormarsch, darauf stellen wir uns hier ein“, sagt Leiterin Miriam Jackels.
Häufig falsche Annahmen über Ernährung
„Ich habe einige Kinder in meiner Ambulanz, die mit ihrem Body Mass Index, also dem Gewicht bezogen auf die Körperhöhe, weit über 40 Punkte liegen. Auch Kinder mit über 200 Kilogramm stellen sich bei uns vor“, sagt Jackels. Keine Seltenheit sei es, dass auch schon Babys behandelt werden: zuletzt ein neun Monate alter Säugling, der 16 Kilogramm wog. Ein Grund dafür seien häufig falsche Annahmen über Ernährung und das große Angebot an Zucker und Fast Food. „Unsere Gene sind nicht für diese Art des Angebots gemacht.“
Eltern rät Jackels, zum Kinderarzt zu gehen, wenn sie das Gefühl haben, dass etwas ungewöhnlich sei. „Es gibt zwei Phasen der Fülle: im Säuglingsalter und vor der Pubertät. Aber das hat alles Grenzen“, so Jackels. Der BMI sei jedoch nicht allein ausschlaggebend. Wichtig sei es, so früh wie möglich zu kommen - damit Folgeerkrankungen erst gar nicht entstehen. Bei Simon sind es bislang nur Schmerzen in den Füßen, wenn er lange geht.
Tägliche Spritzen reduzieren das Gewicht
Die traditionellen Therapieansätze wie Ernährungsumstellung, Bewegung und Verhaltenstherapie führen in Simons Fall nur zu einer Gewichtsreduktion von bis zu fünf Prozent. Für diese Fälle gibt es mittlerweile auch Medikamente, die seit 2021 für adipöse Kinder ab 12 Jahren zugelassen sind - jedoch nur in Ausnahmefällen von der Kasse übernommen werden. Ursprünglich wurden sie für die Diabetesbehandlung entwickelt, sorgen aber auch für eine Gewichtsreduktion. Täglich spritzt sich der 15-Jährige GLP-1-Analoga, im Volksmund auch „Abnehmspritze“ genannt. Sie stimulieren die Freisetzung von Insulin und senken dadurch den Blutzuckerspiegel, was zu weniger Heißhunger führt. Außerdem verlangsamen sie die Magenentleerung, steigern das Sättigungsgefühl und reduzieren die Aufnahme von Fetten aus der Nahrung, erklärt Jackels die Wirkung der Spritze.
„Das Gewicht alleine ist erstmal kein Grund, diese Medikamente zu verordnen“, warnt Jackels. „Wir betrachten jeden Patienten individuell.“ Wichtig sei es, die Gabe gut zu überwachen. Denn Langzeitstudien gebe es noch nicht. Wie auch für Semaglutid, das seit diesem Sommer zugelassen ist: Es wird nur noch einmal wöchentlich gespritzt und soll das Gewicht bis zu 15 Prozent reduzieren.
Simon hat mit der Spritze bereits 6,1 Kilo abgenommen. Ziel sei es nun, das Gewicht zu halten. „Ich denke, dass er das Medikament lebensbegleitend nehmen wird“, sagt seine betreuende Ärztin - zusätzlich zur ausgewogenen Ernährung und regelmäßiger körperlicher Aktivität. Simon nimmt das gelassen hin. Er gehe ja gerne ins Fitnessstudio. Und gesunde Lebensmittel gehören sowieso zu seinem Alltag. „Er würde nie zu Gummibärchen greifen, ohne mich zu fragen“, sagt seine Mutter. „Eigentlich ist er selbst der beste Ernährungsberater.“