Prozess in KölnWeitere Opfer und massive Vorwürfe – Pfarrer U. bleibt regungslos
Köln – Viele Formen von Kindesmissbrauch listete Staatsanwalt Maurice Niehoff auf, als er am Mittwoch vor der zweiten Großen Strafkammer die Nachtragsanklage gegen den 70-jährigen katholischen Priester U. verlas, der seit November 2021 in Köln wegen Kindesmissbrauchs angeklagt ist. Die Rede ist von Taten im Zusammenhang mit Sexspielzeugen, gemeinsamem Duschen, Baden und Eincremen, gemeinschaftlichen, nackten Übernachtungen des Angeklagten mit kleinen Mädchen und „Reiterspielen“ am Computer, bei denen das jeweilige Kind nackt auf dem Schoß des ebenfalls unbekleideten Pastors gesessen haben soll.
Fünf weitere zur Tatzeit minderjährige Opfer
In seiner ursprünglichen Anklage ging Staatsanwalt Niehoff von 33 Taten zu Lasten von drei Nichten des Geistlichen und einer zum Tatzeitpunkt Elfjährigen aus Wuppertal aus. Weil sich während des laufenden Verfahrens weitere Zeugen mit belastenden Aussagen zu Wort melden, sieht der Staatsanwalt es aber inzwischen als erwiesen an, dass 85 weitere Taten strafrechtlich verfolgt werden müssen. Demnach hätte der Priester sich in insgesamt 118 Fällen an Mädchen vergangen. Als mutmaßliche Opfer der neu bekannt gewordenen 85 Taten nennt Staatsanwalt Niehoff fünf Frauen, die zur Tatzeit minderjährig waren. In 70 Fällen handelt es sich um den Missbrauch von Kindern; teilweise sollen die Opfer erst neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Von diesen 70 Taten werden 21 als schwerer sexueller Missbrauch eingeordnet. In den weiteren 15 Fällen geht die Anklage vom Missbrauch von Jugendlichen aus.
Die Zahl der mutmaßlichen Opfer des Kirchenmannes liegt damit bei mindestens neun Personen. Unberücksichtigt sind dabei die Fälle von drei Mädchen und einem Jungen, die bislang nur dem Vornamen nach bekannt waren und daher nicht ermittelt werden konnten. Zeugen hatten ausgesagt, dass der Angeklagte sich diesen Kindern gegenüber in einer Jugendeinrichtung körperlich übergriffig verhalten habe, indem er sie zum Beispiel auf seinen Schoß setzte. Anschließend sollen auch sie in seinem Haus ein- und ausgegangen sein. Ob sie das gleiche Schicksal ereilte wie andere, auf deren Aussage die Nachtragsanklage fußt, ist unklar.
Angeklagter zeigt keinerlei Regung
In Handschellen wurde der Priester aus der Untersuchungshaft über den Gerichtsflur bis zum Verhandlungszimmer geführt, die Kapuze seiner leuchtend roten Jacke hatte er tief ins Gesicht gezogen. Während der Verlesung der Nachtragsanklage zeigte sein Gesicht, wie auch schon an früheren Verhandlungstagen, keinerlei Regung. Umso bedrückter schien eine seiner Nichten zu sein, die während der Verlesung der erschütternden Details zusammengesackt auf ihrem Stuhl kauerte und den Blick gesenkt hielt. Die Vorwürfe, die während des Verfahrens zutage getreten sind, gehen teilweise noch wesentlich weiter als jene, mit denen der Prozess begonnen hatte.
In Begleitung einer Anwältin war die Tochter eines Arztes erschienen. Sie und ihre Schwester gehören zu den fünf Frauen, um deren Schicksal es bei den Vorwürfen der Nachtragsanklage geht. Mit verweinten Augen verließ sie in einer Prozesspause den Saal, begleitet von ihrer Freundin, die bereits seit dem ersten Prozesstag als Nebenklägerin dabei war und auch ein mutmaßliches Opfer ist. Die jüngere Schwester der Frau soll vom Angeklagten schon als etwa Zwölfjährige schwer sexuell missbraucht worden sein, teils im Haus des Priesters, erst in Wuppertal, dann an seinem späteren Wohnort Zülpich im Kreis Euskirchen, teils aber sogar auch im Gästezimmer ihrer eigenen Eltern, wenn der Geistliche als Freund der Familie übers Wochenende zu Besuch nach Gummersbach kam. Mit ihr und den Eltern soll der Priester sogar eine „schriftliche Therapievereinbarung“ geschlossen haben, die besagte, dass das Mädchen einmal im Monat bei ihm übernachten müsse, um ihren angeblichen Jähzorn abzulegen. Die Taten zum Schaden der Schwestern sind zwischen den Jahren 2010 und 2018 einzuordnen.
Das könnte Sie auch interessieren:
Eine andere der fünf Frauen kam der Nachtragsanklage zufolge durch ihren Vater, einen Logopäden, und ihre „strenggläubige“ Mutter in Kontakt mit U.. Die Eltern räumten dem Geistlichen den Platz eines „Nennonkels“ ein und stimmten Übernachtungen des Mädchens in seinem Haus zu. Zwischen 2006 und 2010 soll der Angeklagte durch eine Wuppertaler Jugendeinrichtung, in deren Nachbarschaft er gezogen war, die kleine Tochter einer alkoholkranken Mutter kennengelernt, ein Vertrauensverhältnis zu ihr aufgebaut und sie später mehrfach missbraucht haben. Eine andere Frau soll schon 2002/03 als Teilnehmerin einer Ferienfahrt sein Opfer geworden sein.
Kein gutes Licht auf Informationsmanagement des Bistums
Wie am Mittwoch bekannt wurde, meldete sich bei Gericht ein Pfarrer des Erzbistums, der ab 2012 U.s Vorgesetzter in Wuppertal war. Von der Bistumsleitung sei er über die Vorwürfe von 2010 nicht informiert worden. Vor seinem Dienstantritt in Wuppertal habe er „ausdrücklich gefragt“, ob im Hinblick auf den Seelsorgebereich etwas zu beachten sei. Man habe ihm geantwortet: Der Bereich sei „bestens aufgestellt, eine Musterpfarrei ohne schwarze Flecken“.
Die E-Mail eines Bad Honnefer Priesters, die Richter Christoph Kaufmann am Mittwoch verlas, wirft ein schlechtes Licht auf das Informationsmanagement des Bistums. Der Mailschreiber sei ab 2012 für die Wuppertaler Gemeinde zuständig gewesen, in der der Angeklagte wohnte. Zu dieser Zeit waren bereits erste Missbrauchsvorwürfe gegen diesen bekannt gewesen. In der Mail schreibt der Bad Honnefer, Da es in seiner Gemeinde damals zu krankheitsbedingten Ausfällen gekommen sei, habe er U. „dankbar“ auch in der Seelsorge mit Kindern eingesetzt. Der Ex-Vorgesetzte zeigte sich in seiner Nachricht überzeugt, dass Bistumsverantwortliche spätestens ab 2010 Taten hätten verhindern können.
Tag des Urteilsspruchs steht noch nicht fest
Da es in seiner Gemeinde damals zu krankheitsbedingten Ausfällen gekommen sei, habe er U. „dankbar“ auch in der Seelsorge mit Kindern eingesetzt. Der Ex-Vorgesetzte zeigte sich in seiner Nachricht überzeugt, dass Bistumsverantwortliche spätestens ab 2010 Taten hätten verhindern können.
Durch die Medien auf den Fall aufmerksam geworden, habe sich der inzwischen in Bad Honnef wirkende Priester mit kritischen Fragen an die Interventionsstelle des Bistums gewendet. Weihbischof Ansgar Puff habe ihm daraufhin versichert, von Stefan Heße, seinem Vorgänger als Personalchef, nicht gehört zu haben, dass es besondere Vorkommnisse gegeben habe. Der Mailschreiber selbst gehe aber davon aus, dass der Dechant des Oberbergischen Kreises spätestens informiert worden sei, als man seitens der Wuppertaler Jugendeinrichtung den Angeklagten damit konfrontierte, dass er nicht Kinder auf seinen Schoß setzen solle. „Es gab nicht wenige, die beide Puzzleteile hätten zusammensetzen können“, heißt es Kaufmann zufolge in der E-Mail. Ob das Urteil am 24. oder 25. Februar gesprochen wird, steht noch nicht fest. Bis dahin wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt.