Normal war gesternXueling Zhou bereitet sich unter Corona-Bedingungen aufs Abitur vor
Köln – Die Pandemie hat das Leben vieler Menschen durcheinander gewirbelt. In der Serie „Mein Jahr mit Corona“ sprechen wir mit Kölnern und blicken zurück und nach vorn. Xueling Zhou (16) ist in der elften Klasse des Genoveva-Gymnasiums und steuert in unruhiger Zeit aufs Abitur zu.
Es ist wohl auch die Sprache, die sich in der Krise verändert hat. Schüler seien in diesem Jahr „verloren“ gegangen, sagt man. Weil sie nicht mitkamen bei der Umstellung auf den Digitalunterricht oder überfordert waren mit dem Lernen in der Krise. Ihr ganzer Mathematik-Kurs sei zeitweise „verloren“ gegangen, sagt Xueling Zhou. Es habe keiner mehr recht gewusst, was anstand kurz vor den Weihnachtsferien, regelmäßiger Unterricht habe schon nicht mehr stattgefunden. Es gab insgesamt viel zu verlieren in diesem Jahr.
Berichte in Asien waren weit weg
Xueling Zhou ist 16 Jahre alt und besucht die elfte Klasse des Genoveva-Gymnasiums in Mülheim. Es ist die Zeit, in der langsam klar wird, dass man Gas geben muss fürs Abitur, sich fragt, wohin man will im Leben, aber vor allem: Dinge ausprobiert und auch das Recht hat, unvernünftig zu sein. Zumindest, wenn nicht gerade ein Virus aus einer Markthalle in Wuhan entfleucht und in der Welt wütet.
„Meine erste Erinnerung an Corona ist die Verharmlosung“, sagt Zhou. Das war im Januar. Berichte über das Virus in Asien waren so weit weg wie die nächsten Sommerferien. „Wir waren ganz schön naiv, weil wir dachten, das kommt hier nicht an.“ China ist das Land ihrer Eltern, für das Mädchen liegt das Reich der Mitte schon aus familiären Gründen viel näher. Sie selbst ist in Holweide geboren, hat danach in Hennef, Porz und Kalk gelebt.
Keiner war vorbereitet
So richtig angekommen ist die Krise im März, und da war die Schule fast schon zu. Sie erinnert sich noch genau, an die Mail in den Osterferien. Alle Schüler sollten vorerst zuhause bleiben und dort lernen. Aber keiner war vorbereitet, die meisten haben es als verlängerte Ferien empfunden. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir vor der Sommerpause wiederkommen können.“
Es folgte die große Ratlosigkeit. Man vergisst das heute leicht, aber bis zum März gab es in Deutschland nur eine Minderheit, die Digitalgeräte im Unterricht als notwendig erachtete. Am Genoveva-Gymnasium gab es keine ausgereifte Kommunikationsplattform, also musste zunächst etwas aufgespielt werden. „Einige Lehrer waren wirklich ,lost’ damals“, sagt Zhou. Sie waren hilflos und ratlos, soll das heißen. Verloren. Im Mai gab es die Software „Teams“ von Microsoft, um den Unterricht digital aufzustellen. „Aber es war nur eine Testversion, sie ist andauernd abgestürzt.“ Spätestens da war klar: Dieses Jahr würde schwierig bleiben.
Prüfungen inmitten der Krise
Es war die Zeit, in der viel gesprochen wurde über die Abiturienten und die Prüfungen inmitten der Krise. „Aber die waren schon in der Abschlussphase.“ Sie findet es viel anstrengender für die nachfolgenden Jahrgänge, die nun erst das Wissen für das Abitur aufnehmen müssen. Sie selbst hat Deutsch und Geschichte als Leistungskurse.
Sie arbeitet gerade an einer Facharbeit über Hatschepsut, die Pharaonin und legendäre Herrscherin über das alte Ägypten. Sie müsste sich noch Literatur ausleihen, aber die Bibliotheken haben geschlossen im Lockdown. Jedenfalls ist sie gut beschäftigt über den Jahreswechsel.
Die Maske vernebelt die Kommunikation
Das Genoveva-Gymnasium ist eine Multikulti-Schule. 800 Schüler, mehr als 90 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Auch das macht den Unterricht in Corona-Zeiten nicht einfacher. Denn mit der Maske ist die Kommunikation vernebelt, im Fernunterricht fehlt die enge Anbindung.Ist dieses Virus überhaupt schlimmer als eine Grippe? Diese Debatte gab es an der Schule ebenso wie überall im Land. Doch es dauerte nicht lange, bis das Virus und auch die Angst davor sehr nahe kamen.
„Allein in meiner Stufe hatten wir drei oder vier Fälle“, sagt Zhou. Ein betroffenes Mädchen (18) ist Asthmatikerin. „Sie hat schon gelitten.“ Weil die Elftklässlerin Kontaktperson war, musste sie zehn Tage in Quarantäne, etwas, das sie vorher unterschätzt hatte. Denn Zhou wohnt in einer Wohngruppe in Lindenthal, und es wurde scharf darauf geachtet, dass sie nicht mehr aus dem Zimmer tritt. „Ich wusste, wie sich Isolation anfühlt.“
Kein Verwandtschaftsbesuch in diesem Jahr
Ihre Eltern kommen aus der chinesischen Provinz Fujian. Alle paar Jahre war sie zum Verwandtschaftsbesuch da, nur in diesem Jahr natürlich nicht. Das Virus ist in China mit dem großen Besteck eines autoritären Staatssystems bekämpft worden. Über den Söder-Laschet-Lockdown würde sich ein chinesischer Machthaber vermutlich köstlich amüsieren, in China durfte im Frühjahr niemand die Wohnung verlassen, und das über Wochen.
Heute hat sich das Leben weitgehend normalisiert. Zhou sind die Freiheitsrechte dennoch lieber. Dass sie sich anfangs Sprüche anhören musste, sie möge doch dahin zurückgehen, wo das Virus herkomme, macht sie sie nicht mal fassungslos. „Dafür ist das zu abwegig.“
Lange schlafen? Keine gute Idee!
Wenn das Abitur ein Weitsprung ist, dann ist die elfte Klasse ein Anlaufnehmen. Viel Tempo ist notwendig, um alles aufzunehmen, was man später zum großen Sprung braucht. Xueling Zhou fühlte sich im März ausgebremst, aber sie hat sich auch schnell gefragt, was sie selbst tun kann, um da raus zu kommen. Lange schlafen? Keine gute Idee. Stundenlang Netflix schauen? Auch nicht.
„Die Zeit gehört einem doch selbst. Ich entscheide doch, was ich damit mache und wie ich sie nutze.“ Die verloren gegangene Struktur hat sie selbst nachgebaut. Heute steht sie gegen 9 auf, trinkt Kaffee, liest die neuen Nachrichten (zum Virus) und lernt das, was auf dem Stundenplan gestanden hätte. Meist bis zum Nachmittag. „Das wird wohl auch nach dem 10. Januar so weiter gehen“, sagt sie. „Ich glaube nicht, dass wir nach den Ferien zum Präsenzunterricht zurückkehren.“ Außerdem hat sie Ziele: „Ich will in Heidelberg Medizin studieren.“ Erforderlicher Notenschnitt: 1,0.
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Sie lebe aber auch gerne spontan. Im Sommer wäre sie mit Freunden nach Belgien gefahren, vielleicht ein paar Tage Ruhrgebiet, nichts Großes, dem sie nun hinterhertrauern müsste. „Das gemeinsame Ausgehen mit Freunden fehlt mir schon.“ Nicht mal ein Picknick am Aachener Weiher sei zuletzt drin gewesen.
Aber insgesamt habe sie in diesem Jahr gelernt, sich selbst besser zu organisieren, neue Fähigkeiten entdeckt, sie engagiert sich in der Bezirksschülervertretung, inzwischen auch auf Landesebene. Was sie gar nicht verstehen kann, ist die große Sehnsucht nach den alten Zeiten. „Die Politik will immer zurück zur Normalität.“ Die sei aber verloren. „Wir sollten lieber überlegen, wie wir künftig leben wollen.“