Annegret Bünnagel war jahrelang Alkoholikerin. Heute hilft sie beim Blauen Kreuz Betroffenen, von der Sucht loszukommen. Mit Bernd Imgrund sprach sie über Wege weg von der Flasche
Alkoholikerin aus Köln hilft nun anderen„Die vergeudete Zeit schmerzt bis heute“
Es ist eine Volkskrankheit, denn sie betrifft alle Schichten: Alkoholismus. Annegret Bünnagel kennt Ursachen für den Absturz und den langen Weg aus der Sucht.
Nur die Piusstraße trennt die Zentrale des Blauen Kreuzes vom Melatenfriedhof. Die erste Frage bietet sich deshalb an:
Wie viele der Toten dort waren wohl Alkoholiker?
Jede Menge! Wenn ein Neuankömmling noch nicht so recht weiß, ob er wirklich Hilfe will, sagen wir hier häufig: Irgendwann musst du dich für eine Straßenseite entscheiden.
Was sind das für Menschen, die hier hinkommen?
Es gibt dieses Klischee, der Alkoholiker sei der „Penner“ vom Bahnhof. Aber zu uns kommen Leute aus sämtlichen Bevölkerungsschichten: von Arbeitern und Angestellten bis zu Lehrern und Bänkern.
Wann erleben Sie einen schönen Moment?
Wenn sich jemand öffnet. Viele Leute halten sich zunächst sehr bedeckt. Mir geht´s gut, danke, sagen sie lange. Aber irgendwann platzt es aus ihnen raus. Dann fällt die Maske, und die Menschen sind angekommen.
Und andersherum: Was deprimiert Sie?
Manche Geschichten und Schicksale! Da erzählt Ihnen jemand, dass sein erstes Kind gestorben ist und das zweite Krebs hat. Dann denkt man innerlich: Dass du säufst, kann ich beinahe nachvollziehen.
Sagen Sie „Ich bin“ oder „Ich war Alkoholikerin“?
Ich bin! Ich bin alkoholkrank und seit vielen Jahren trocken. Die Krankheit bleibt, auch wenn Sie nichts mehr trinken. Egal wie lange Sie trocken sind: Sie sind nur ein Glas vom nächsten Ausbruch entfernt. Lebenslang.
Wie haben Sie gemerkt, dass Sie Alkoholikerin sind?
Der Alkohol hat mein Leben bestimmt. In meinen Zwanzigern hatte ich schlimme Panikattacken und Angstzustände und stellte fest: Alkohol hilft. Aber eben nur für den Moment. Der Alkohol verstärkte die Panikattacken, was wiederum nach mehr Alkohol verlangte. So geriet ich in eine Abwärtsspirale und wurde abhängig.
Wie lief das mit dem Trinken tagsüber?
Ich brauchte den Alkohol schon morgens. Sobald mein Mann aus dem Haus war, ging es los. Um heimlich trinken zu können, hatte ich überall Verstecke. Da habe ich meine Weinflaschen gebunkert, um immer Nachschub zu haben.
Gab es einen Wendepunkt?
Psychisch krank war ich schon lange. Ende der 1990er spielte dann auch der Körper nicht mehr mit. In einer Tagesklinik, in der ich für ein Beratungsgespräch war, sagte man zu mir: Wenn Sie so weitertrinken, sind Sie in einem halben Jahr tot. Ich begann zu überlegen und habe dann aufgehört zu trinken. In dieser Klinik lagen Flyer vom Blauen Kreuz, die mich schließlich hier hinbrachten.
Offenbar der richtige Schritt.
Mit Hilfe der Menschen in den Selbsthilfegruppen habe ich dann gelernt, zufrieden abstinent zu leben. Meine Panikattacken sind mit dem Weglassen des Alkohols auch verschwunden.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Erfahrung mit einer Selbsthilfegruppe?
Das war zunächst mal eine unheimliche Überwindung. Voller Selbstzweifel, voller Scham: So weit runtergekommen bist du jetzt also, dass du zu diesen Alkoholikern gehst. Umso größer war dann die Erleichterung, als ich feststellte, dass hier „ganz normale“ Menschen sitzen, die mich verstehen.
Sie reden sehr offen über Ihre Krankheit. Gehört das zum Konzept?
Zu hundert Prozent! Wenn die Leute nach ein paar Wochen Vertrauen fassen, rücken sie mit ihren Problemen heraus. Es nützt nichts, nur den Alkohol wegzulassen, hinter der Krankheit steckt immer noch mehr.
Es geht immer um Alkoholismus plus X?
Klar, denn von nichts kommt ja auch kein Alkoholismus. Wir haben da einen schönen Spruch: „Sucht kommt nicht von Drogen, sondern von betäubten Träumen, verdrängten Sehnsüchten, verschluckten Tränen und erfrorenen Gefühlen.“
Was schmerzt Sie bis heute?
Die vergeudete Zeit. Ich bin froh und dankbar, noch in halbwegs jungen Jahren, mit Anfang 40 aufgehört zu haben. Lange Zeit davor war der Alkohol mein einziger Lebensinhalt, die gibt mir niemand zurück.
Gibt es einen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Alkoholismus?
Tendenziell gehen Männer offener mit ihrem Trinken um. Die spielen in der Kneipe gern den tollen Kerl, der viel verträgt. Frauen sind eher Problemtrinker, die heimlich zuhause trinken.
Dementsprechend tun sich Männer schwerer, hier aufzulaufen?
Ja, aber das löst sich meist ganz schnell auf. Natürlich gibt es diese Kopfmenschen, an die man schwer herankommt. Aber auch die müssen sich irgendwann eingestehen, dass sie ein Problem haben, mit dem sie nicht allein fertig werden. Insgesamt betreuen wir hier genauso viele Männer wie Frauen.
Haben Sie einen anderen Blick auf Trinkende, seit Sie trocken sind?
Grundsätzlich habe ich nichts gegen Alkohol. Das Glas Wein am Nebentisch im Restaurant nehme ich gar nicht wahr. Aber ich sehe es sehr kritisch, wenn wirklich viel getrunken wird. Karnevalsfeiern zum Beispiel meide ich.
Stößt Sie das ab?
Auch. Aber wenn ich ehrlich bin, bekomme ich dabei auch den Spiegel vorgehalten: Genau wie die da hast du dich früher auch benommen.
Werden Sie manchmal messianisch, wenn jemand in Ihrer Umgebung das dritte Glas hebt?
Wenn der Mensch mir nahesteht, wäre ich kritisch. Mein Mann war nie abhängig, obwohl er früher auch täglich sein Feierabendbierchen getrunken hat. Inzwischen hat er schon lange komplett aufgehört. Dass wir keinen Alkohol im Haus haben, war nach meinem Entzug vor 25 Jahren eine Bedingung.
Auch kein alkoholfreies Kölsch?
Nein! Die Frage kommt in unseren Gesprächsrunden immer wieder: Darf ich wenigstens noch Alkoholfreies trinken? Da erkennt man direkt, dass derjenige den Alkohol noch nicht losgelassen hat. Und seien wir doch mal ehrlich: Wirklich lecker ist alkoholfreies Bier ja nun auch nicht. (lacht)
Muss man erst ganz am Boden sein und die Entscheidung für die Wende selber treffen?
Im Prinzip ist das so, ja. Wobei jeder seinen Tiefpunkt anders definiert. Solange es mir mit dem Trinken noch gut geht, warum sollte ich dann etwas dagegen unternehmen? Oft erkennen die Partner oder auch die Arbeitgeber das Problem viel früher als die Betroffenen selbst und machen Druck. Aber eine wirkliche Wende muss man selbst wollen.
Kalter Entzug zuhause: Gute Idee?
Auf keinen Fall! Aus Unwissenheit habe ich das auch gemacht, aber es ist höchst gefährlich. Der Entzug muss im Krankenhaus stattfinden. Man wird während der Entgiftung beobachtet, und unter anderem lindern Medikamente die Symptome.
Haben Sie die klassischen weißen Mäuse gesehen?
Ich nicht, aber es gibt während des Entzugs dieses so genannte Delirium, in dem es zu Wahrnehmungsstörungen kommen kann.
Nach dem Entzug hat man plötzlich viel mehr Zeit als zuvor.
Das ist tatsächlich ein Riesenthema, an dem wir intensiv mit den Menschen arbeiten. Zahllose Stunden hat man mit dem Besorgen, Verstecken und Entsorgen von Flaschen verbracht. Die restliche Zeit hat man gedöst oder verpennt, der Tag war um 17 Uhr vorbei. Und auf einmal sind Sie nüchtern und müssen diese Stunden anders füllen. Es darf kein Leerlauf, keine Langeweile entstehen, die einen womöglich dem Rückfall näherbringt.
Wie haben Sie Ihre neu gewonnene Zeit verbracht? Mit dem Marathonlaufen begonnen?
Um Gottes Willen! So schlecht, dass ich Sport gemacht hätte, ist es mir nie gegangen. (lacht) Ich habe in der ersten Zeit etwa Seidenmalerei betrieben, im Keller, ein Seidentuch nach dem anderen. Hat mir Spaß gemacht, aber letztlich war vollkommen egal, was ich tue. Hauptsache, da ist etwas! Später habe ich dann begonnen zu fotografieren. Das ist bis heute ein ernsthaftes Hobby für mich.
Wie wichtig ist für Organisationen wie das Blaue Kreuz das Ehrenamt?
Ohne das könnten wir den Laden zumachen. Alle dreißig Mitarbeiter der Selbsthilfe sind Ehrenamtler.
Sie sind darüber hinaus im Vorstand. Bei VW verdient man in der Position ganz gut.
Tja, ich mache das seit fast zwanzig Jahren und verdiene gar nichts. Wir haben eh Mühe, uns finanziell über Wasser zu halten. Wir leben von verschiedenen Zuschüssen, Spenden und den Mitgliedsbeiträgen.
Treffen Sie manchmal ehemalige Teilnehmer?
Gerade eben noch! Da kam jemand vom Friedhof und sah mich an der Tür stehen. Er sei vor zehn Jahren hier in einer Gruppe gewesen und trocken geworden. Zum Blauen Kreuz zu gehen, sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen, er sei heute ein anderer Mensch. Über solche Begegnungen freut man sich natürlich.
Sie trinken seit 25 Jahren keinen Alkohol mehr. Welches Laster ist Ihnen geblieben?
(Annegret Frau Bünnagel kramt in ihrer Handtasche und holt ein Rauchgerät hervor.)
Ich dampfe.
Welche Geschmacksrichtung?
Heute Wassermelone, aber ich mag auch Erdbeer. (lacht) Hauptsache, kein Nikotin!
Zur Person
Annegret Bünnagel wurde 1956 in Köln geboren. Nach der Realschule machte sie eine Ausbildung zur Versicherungskauffrau und arbeitete bis 1982 bei der Rheinenergie. Nach der Geburt ihres Kindes blieb sie zehn Jahre lang Hausfrau, bevor sie wieder eine Arbeit aufnahm. Schon in jungen Jahren trank sie viel und wurde schließlich alkoholabhängig. Viele Jahre verbrachte sie als „heimliche Trinkerin“ zwischen verschiedenen Flaschenverstecken. Ende der 90er Jahre lernte sie das Blaue Kreuz kennen. Eine Selbsthilfegruppe half ihr, mit dem Alkohol aufzuhören. 1998 begann sie ehrenamtlich für das Blaue Kreuz, und seit 2001 leitet sie Selbsthilfegruppen für Ausstiegswillige. Annegret Bünnagel wohnt in Pesch. www.blaues-kreuz.de/de/rheinland/koeln/blaukreuz-zentrum-koeln/