Die Gründerinnen der Friedensgruppe „Palestinians and Jews for Peace“ stehen für mehr Menschlichkeit in einem polarisierten Konflikt ein.
InterviewWarum eine Palästinenserin und eine Jüdin aus Köln gemeinsam für Frieden in Israel und Gaza kämpfen
Was hat Sie zu Friedensaktivistinnen gemacht?
Karaosman: Ich bin seit 2013 eine Friedensaktivistin. Das war ein Jahr, nachdem mein Vater verstorben war. 2015 reiste ich zum ersten Mal nach Jaffa, dem Stadtteil Tel Avivs, in dem er geboren wurde. Ich habe mich in dem Moment, als ich dort war, in Jaffa verliebt. Zum ersten Mal fühlte ich mich zu Hause. Jaffa war genau wie ich. Ein bisschen von vielem. Israelis und Palästinenser*innen lebten zusammen in Frieden. Ich war bei einer jüdischen Freundin zu Gast und traf mich mit palästinensischen und jüdischen Aktivist*innen. Durch meine Zeit dort, intensives Zuhören und die Gespräche, habe ich realisiert: Es gibt keine Seiten. Es gibt nur ein Gebiet, in dem alle in Frieden leben wollen.
Bublevskaya: Mit 17 habe ich das erste Mal meine entfernte Familie in Israel besucht. Im Gespräch mit meinen Verwandten habe ich gemerkt, dass sie viele Ängste gegenüber den Menschen aus den angrenzenden arabischen Ländern haben. Sie leben in ständiger Sorge, dass etwas passiert. Diese Angst hat sich auch zu Rassismus entwickelt. Als ich das begriffen habe, fing ich an, diese einseitige Perspektive zu hinterfragen.
Wie haben Sie als Jüdin den 7. Oktober erlebt?
Bublevskaya: Es ist sehr, sehr beängstigend. Seit der Shoah war das die größte Anzahl an jüdischen Menschen, die ermordet wurden. Und dahinter steckte der Gedanken, dass sie nicht existieren sollten. Die Hamas hat kurz danach dazu aufgerufen, jüdische Menschen und Einrichtungen auf der ganzen Welt zu attackieren und ich habe keinen Aufschrei dagegen mitbekommen, meine nicht jüdischen Freund*innen haben bei mir nicht nachgefragt, wie es mir geht und ob ich irgendeine Unterstützung brauche.
Warum haben Sie sich damals keinen Pro Israel Demos angeschlossen?
Bublevskaya: Es ist natürlich in Ordnung, um die ermordeten Menschen zu trauern. Aber unter dem Namen Pro Israel fühlt es sich für mich wie ein Angriff auf die anderen an. Als würde man nicht sehen, dass es Schmerz auf beiden Seiten gibt. Deshalb wollten wir mit unserer Demo einen Ort schaffen, an dem man zusammen trauern kann. Wir möchten uns nicht entscheiden müssen, für welche Seite wir Empathie ausdrücken und trauern.
Der Konflikt scheint die Gesellschaft zu spalten. Wie sollen Ihre Demonstrationen dagegenhalten?
Karaosman: Wir machen auf das Leid aufmerksam. Das ist, was alle gemeinsam haben, und daran müssen wir uns erinnern. Sonst kommt es zu einem Wettbewerb: Wer hat die größten Schmerzen und wer hat im Umkehrschluss am meisten Schmerzen verursacht? Dieser Leidenswettbewerb ist etwas, das niemand wirklich gewinnen will. Alle haben Opfer zu beklagen und sollten sich gegenseitig zuhören, um zu lernen. Wir müssen unser Gegenüber als menschlich sehen, anstatt es zu entmenschlichen. Menschen sind mehr als Opferzahlen.
Flaggen sind auf Ihren Demos nicht erlaubt.
Karaosman: Genaugenommen lassen sie sich nicht verbieten. Wir bitten Menschen aus Respekt vor den Opfern keine Flaggen, sondern Kerzen und Blumen mitzubringen. Die Idee ist, dass dadurch die gemeinsame Trauer und der gemeinsame Einsatz für eine friedliche Lösung im Vordergrund stehen. Nationalsymbole wie Fahnen oder Partei- und Vereinsfahnen setzen eine bestimmte Identität in den Vordergrund. Bei unseren Demos soll es nicht um das gehen, was uns trennt oder besonders macht. Es soll in erster Linie um das gehen, was uns eint. Unser Menschsein, die Fähigkeit zu Freude, Liebe und Leid, denn Flaggen repräsentieren Nationen und keine Menschen.
Sie verlangen neben der Freilassung aller Geiseln auch eine permanente Waffenruhe. Ist das überhaupt möglich?
Bublevskaya: Ja. Das Einzige, was die Angriffe tun, ist viele, viele Zivilistinnen und Zivilisten zu töten, die nichts mit dem Krieg zu tun haben. Die israelische Regierung bombardiert Gaza mit der Entschuldigung, die Hamas eliminieren zu wollen, um Sicherheit für jüdische Menschen herzustellen. Tatsächlich macht das aber keinen Sinn. Die Köpfe der Hamas, wie Ismael Haniyeh sind nicht in Gaza, sondern leben sicher in Qatar. Eine Eliminierung funktioniert so also nicht. Durch die fortlaufenden Bombardierungen und Morde werden die Menschen in Gaza außerdem verständlicherweise nur wütend, was den Extremismus befeuern kann. Dadurch fühlt sich niemand in Israel sicherer.
Betrachten Sie die Angriffe Israels als Selbstverteidigung, wie Israels Ministerpräsident Netanjahu sie nennt?
Bublevskaya: Nein, in diesem Ausmaß nicht.
Karaosman: Die Angriffe sind eine kollektive Bestrafung und das ist ein Kriegsverbrechen, das sagen auch die Vereinten Nationen. Tausende Menschen haben nicht genug Nahrung, sie werden getötet oder verletzt. Hilfe gibt es kaum. Menschen, die der israelischen Regierung schon länger kritisch gegenüberstehen, weil sie teils faschistisch ist, haben die Intention der Angriffe von Anfang an hinterfragt. Schon vor dem 7. Oktober haben Israelis gegen ihre Regierung demonstriert und sie tun es auch jetzt noch.
Die Worte „Free Palestine“ sind auf Ihren Demos erlaubt. Widersprechen sie dem Existenzrecht Israels?
Bublevskaya: „Free Palestine“ muss nicht unbedingt etwas antisemitisches heißen, wie dass es den jüdischen Staat Israel nicht geben dürfe oder dass man jüdischen Menschen den Tod wünsche. Es kann einfach bedeuten, dass man Freiheit für die palästinensischen Menschen will. Und das ist total berechtigt.
Karaosman: Die Menschen in Gaza sind eingesperrt. Auch die Menschen im Westjordanland können nicht nach Israel. Zu fordern, dass sie sich frei bewegen können und in Würde leben sollen, hat nichts mit einem Angriff auf die Existenz Israels zu tun. Wenn man das anders sieht, sollte man sich dringend fragen, warum die Freiheit eines Volks so bedrohlich sein soll. Der Slogan „From river to the sea, Palestine will be free“ ist aber ein No-Go, weil er oft genutzt wird, um Israel das Existenzrecht abzusprechen und die antisemitische Hassfantasie der Hamas zu verbreiten.
Wie steht Ihr zu pro-palästinensischen Demos, die teils verboten wurden?
Karaosman: Eine Demonstration zu verbieten, ist keine Lösung. Viele Menschen suchen einen Ort für ihren Schmerz und merken dabei nicht, dass sie einseitig instrumentalisiert werden. Was auf der Demo in Essen passiert ist, war schrecklich. Das Öffnen islamistischer Transparente und der Aufruf zum Dschihad haben nichts mit Solidarität und dem Mitgefühl für den Schmerz der Palästinenser zu tun. Als Palästinenserin möchte ich auf keinen Fall, dass mein Schmerz vom politischen Islam instrumentalisiert wird. Aber ich möchte auch nicht, dass Islamismus als Vorwand benutzt wird, um verschiedene pro-palästinensische Demos zu verbieten und zu kriminalisieren. Die radikalen Islamisten, die sich in Essen unter die Demonstrierenden mischten, sind den deutschen Behörden bekannt. Hier kann und sollte eingegriffen werden, um den Einfluss des politischen Islam zu begrenzen. Etwa 2 Wochen nach der Demo in Essen hat ein ranghoher Vertreter der Taliban eine Rede in einer Ditib-Moschee in Köln gehalten. Da frage ich mich schon, warum ganze Demonstrationen kriminalisiert werden, während die geistigen Brandstifter unbehelligt ihren Hass verbreiten können.
Zielt Eure Kritik an der israelischen Regierung auch auf die Haltung der Deutschen Regierung zu Israel ab?
Bublevskaya: Deutschlands Solidarität mit Israel wird auch mit seiner Geschichte in Bezug auf den Holocaust begründet. Als Wiedergutmachung müsse man uneingeschränkt und bedingungslos zu Israel stehen, auch über das Existenzrecht Israels hinaus. Das kann ich nicht nachvollziehen. Klar, Geschichte ist wichtig, aber man muss auch einsehen was aktuell passiert. Natürlich darf Israel nicht zum Sündenbock werden, weil dieser Staat für jüdische Menschen steht und die waren schon immer der Sündenbock. Um mit unserer Kritik an Israels Regierung nicht antisemitisch zu sein, sollten wir uns fragen: Würden wir ein anderes Land in dieser Situation auch kritisieren?
Karaosman: Die bedingungslose Unterstützung Deutschlands für die israelische Regierung gießt Öl ins Feuer. Ziel seien die Sicherheit des jüdischen Volkes und das Recht, in einem jüdischen Staat in Sicherheit zu leben. Die Maßnahmen der israelischen Regierung tragen, wie Kris erklärt hat, jedoch nicht dazu bei. Antisemitismus ist real und existiert sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern. Man kann sich auch fragen, wie wirksam der Kuschelkurs der Regierungsparteien mit den Unterstützern der Hamas wie Katar, Iran, Türkei und Saudi-Arabien gegen Antisemitismus ist.
Finden Sie, dass nicht nur der Antisemitismus, sondern auch die Muslimfeindlichkeit in Deutschland zugenommen hat?
Karaosman: Ja, es entwickelt sich das Narrativ in Deutschland, dass der Antisemitismus im Land allein durch arabischen Menschen komme. Meine Mutter ist Syrerin. Zudem habe ich syrische Verwandte, die nach Deutschland geflohen sind. Nach dem 7. Oktober hat der Kollege von meinem Cousin nach jahrelanger Zusammenarbeit zu ihm gesagt, dass Araber ein Problem seien, weil alle von ihnen jüdische Menschen hassen würden. Plötzlich sollen die einzigen Antisemiten im Land arabisch sein. Über die Wahlerfolge der AfD redet stattdessen niemand mehr. Weder meine jüdischen noch meine muslimischen Freunde fühlen sich mit dieser Entwicklung sicher.
Viele Menschen trauen sich wegen der Komplexität des Kriegs nicht, sich zu äußern. Sie wollen nicht falsches sagen. Könnt Ihr das verstehen?
Karaosman: Ich verstehe den Impuls, nichts falsch machen zu wollen. Es ist aber wichtig, Fehler zu machen, denn so können wir lernen und uns entwickeln. Wer sich entscheidet, zu schweigen, trifft eine politische Entscheidung. Und es ist eine Entscheidung, die dem Krieg hilft. Denn indem man nicht darüber spricht, wird der Krieg zu etwas Normalem und Gewalt gegen diskriminierte Gruppen salonfähig.
Palestinians and Jews for Peace
Die Gruppe „Palestinans and Jews for Peace“ wurde kurz nach dem Angriff der Hamas auf Israel von den Kölner Freundinnen Kristina Bublevskaya und Zeynep Karaosman gegründet. Bublevskaya ist Jüdin und Karaosman Palästinenserin. Kennengelernt haben sich die beiden auf einer Fortbildung über Antisemitismus. Mehr als 30 Personen gehören mittlerweile zu der Gruppe, darunter nicht nur Menschen mit jüdischen und palästinensischen Wurzeln, sondern auch Menschen mit anderen Hintergründen, die als Unterstützerinnen und Unterstützer mitwirken.
Zwei Friedensdemonstrationen in Köln hat die Gruppe bisher organisiert. Zur vergangenen Demo am 19. November kamen laut Polizei rund 2.000 Personen.
Zeynep Karaosman (36) hat eine syrische Mutter und einen palästinensischen Vater. Sie lebt seit einigen Jahren in Köln, davor hat sie in der Türkei gewohnt, wo sie als Lehrerin arbeitete. Um ihren Job in Deutschland weiter nachgehen zu können, studiert sie auf hier Lehramt und arbeitet währenddessen als Schulbegleiterin. Schon in der Türkei war sie als Friedensaktivistin tätig.
Kristina Bublevskaya (30) ist Filmemacherin und studiert an der Kunsthochschule für Medien Köln. Sie ist Jüdin und hat Familie in Israel. Geboren wurde sie in Russland.