Der Kölner Karneval feiert Jubiläum. Ludwig Sebus (97) hat den Wandel vom Nachkriegskarneval zum lauten Partyevent miterlebt. Ein Gespräch mit dem „Grandsigneur des Kölner Karnevals“.
Interview mit Ludwig Sebus„Einsamkeit ist für mich ein großes Thema, ich brauche die Menschen“
Als „Grandsigneur des Kölner Karnevals“ wird Ludwig Sebus (97) gerne in den Karnevalssälen der Stadt begrüßt. Wenn er früher auf den großen Bühnen mit schelmischem Lächeln seine Krätzchen sang, trug er meist Frack. Etikette ist wichtig für Ludwig Sebus, an diesem Vormittag trägt er unter dem blauen Sakko ein kariertes Hemd. Der Kölner Karneval feiert Jubiläum, vor 200 Jahren wurden das Festkomitee und erste Vereine gegründet. Eine große Zeitspanne hat Sebus aktiv miterlebt.
Etwa 200 Auftritte hatte Sebus pro Session, er gehörte damit zu den meistgebuchten Künstlern. In seiner Karriere hat er etwa 200 Lieder geschrieben, viele Ideen kamen ihm während der vielen Autofahrten zwischen Köln und Mannheim, wo er für die Heinrich Lanz AG arbeitete, die später vom amerikanischen Landmaschinenhersteller John Deere übernommen worden war. Am Steuer sang Sebus seine Ideen ins Diktiergerät. In seinem Arbeitszimmer hängen zahlreiche Urkunden und Auszeichnungen an den Wänden.
Seit einigen Wochen fährt eine S-Bahn mit Karnevalsmotiven durchs Rheinland. Auch Sie sind auf dem Zug zu sehen.
Ich bin angenehm überrascht und gar nicht so entstellt wie ich dachte (lacht).
Bedeutet Ihnen das noch was?
Für mich spielt die Einsamkeit eine große Rolle. Und das Gegenteil. Ich brauche die Menschen. Im Krieg und der anschließenden Gefangenschaft habe ich sehr darunter gelitten, der einzige Kölner in meiner Gruppe gewesen zu sein. Zum Glück habe ich die Gabe, auch ernste Themen humorvoll zu verpacken. Ich bin gerne unter Menschen. Und insofern freut es mich, wenn ich nicht vergessen werde.
Seit jeher wird Heimatverbundenheit stark durch Musik ausgedrückt. Welche Lieder haben Sie mit in den Krieg genommen, sozusagen als imaginäre Brücke nach Köln?
Ich halte sehr viel von der kölschen Musik, denn in den Liedern liegt unglaublich viel Kraft. Als junger Soldat in Gefangenschaft kannte ich einige kölsche Lieder, aber Willi Ostermanns „Heimweh noh Kölle“ verlieh dem Gefühl vieler Mitgefangener Ausdruck – egal, ob sie vom Main oder der Donau kamen. Die Bedeutung war gleich stark, und alle haben mitgesungen. Dieses Lied hatte eine große Bindung nach Köln ausgelöst.
Was wünschen Sie dem Kölner Karneval zum Jubiläum und für die Zukunft?
Vielleicht, dass die Menschen in den Sitzungssälen wieder besser zuhören können. Die jungen Bands haben die große Aufgabe, die Jugend an den Karneval heranzubringen. Als ich 1955 auf die Karnevalsbühne kam, klangen die Karrieren vieler großer Namen aus. Meine einzige Erinnerung an Willi Ostermann ist die Teilnahme am Leichenzug zum Begräbnis, zu dem mich meine Mutter mitnahm. Ich hatte eine enge Verbindung zu Karl Berbuer, mein väterlicher Freund. Aber auch zu Jupp Schmitz, Gerhard Jussenhoven und Jupp Schlösser. In dieser Schaffensrichtung sehe ich mich. Und ich denke, die Leute konnten damals besser zuhören.
Heute dauert eine Büttenrede manchmal 25 Minuten. So lange kann ja niemand lustig sein.
Wenn damals ein Präsident aufstand, waren die Menschen ruhig. Bei mir war meistens Ruhe da. Zu meiner Zeit lief jede Programmnummer exakt 15 Minuten. Die Vielfalt war dadurch größer. Heute ist es eine Frage der Kosten, da lasse ich keine Band nach einer Viertelstunde gehen. Stilistisch sind mir viele Programme zu monoton und zu langweilig.
Was ist heute denn besser als damals?
Der Karneval ist lockerer geworden. Zu meiner Zeit war der Karneval sehr gesellschaftlich orientiert, er hatte etwas Klassenerhaltendes, da feierten die Oberschicht und der gesunde Mittelstand. Heute ist es volkstümlicher. Die Kostümierung hat viel zu dieser Lockerheit beigetragen. Das halte ich für eine gute Entwicklung.
Auch nach 200 Jahren gehörte noch keine Frau zum Dreigestirn – mal abgesehen von den weiblichen Jungfrauen während der Nazizeit.
Früher gab es männliche Tanzmariechen, heute haben wir weibliche. Warum soll sich nicht auch das Dreigestirn verändern? Wobei ich persönlich den größten Gewinn darin sähe, wenn Prinz und Bauer Männer bleiben und ihre Lieblichkeit als Mutter Colonia von einer Frau verkörpert wird. Dabei geht es mir nicht um die Argumente der Nazis und die Ablehnung homosexueller Darstellungsformen, das ist Blödsinn. Aber eine Frau wirkt, glaube ich, als Jungfrau sehr stark.
Krätzchen sind heute eher unpopulär, weil sie schlecht auf Partys funktionieren. Wie war das zu ihrer Zeit auf der Bühne? Haben die Menschen „Och Verwandte, dat sin Minsche“ in der Kneipe gesungen?
Wir haben damals mit unseren Liedern den Karneval mitgeprägt, so wie heute die Gruppen. Unsere Lieder wurden gesungen. Heute ist mehr Leben in den Liedern, es ist Partymusik. Alles hat seine Zeit.
Sie haben nach einem Auftritt in der Messehalle mal eine Rechnung über 67 Deutsche Mark für zerstörte Weingläser erhalten, die während ihres Auftritts zu Bruch gegangen waren. Heute wären Sie eine Rampensau.
Bestimmt. Als der Dom die Vierung wieder aufnahm und nach dem Krieg repariert worden war, hatte ich in einem Lied vom Glockenschlag des Decke Pitter gesungen. Das Bim-Bam kam in einer Textzeile vor und ich sagte im Saal: So, meine Damen und Herren. Sie können ja mit ihren Schlüsseln an die Gläser klopfen, dann hören sie den Decken Pitter läuten. Und dann bekam ich die Rechnung für 67 kaputte Gläser. Oberbürgermeister Theo Burauen hat das dann geklärt. So war das.
Die Nähe zwischen Karneval und Politik hat eine lange Tradition.
Ich hatte das Glück, Konrad Adenauer persönlich kennenzulernen. Seinerzeit hatte er sich für eine Rede zum Geburtstag der Politikerin Sibylle Hartmann eine Zeile aus einem meiner Lieder geliehen. „Jede Stein in Kölle es e Stöck vun Dir“. Ich hatte im Sommer 1955 gerade acht Tage ein Telefon als sich eine Dame meldete und sagte: Hier ist das Bundeskanzleramt in Bonn. Und ich sagte: Hier ist die Friedhofsverwaltung Melaten. Es war mir eine Ehre, dass er meine Textzeile verwenden wollte. Schließlich durfte ich selbst zum Geburtstag kommen und eine Tasse Kaffee mit Adenauer trinken. Ich habe gemerkt, wie bodenständig und sympathisch dieser Mann war. Wegen ihm bin ich damals in die CDU eingetreten.
Sie haben viele Auszeichnungen für Ihre Lieder und Ihr Lebenswerk erhalten. Welche ist Ihnen am wichtigsten?
Über die goldene Ostermann-Medaille bin ich sehr glücklich. Ich habe jetzt festgestellt, dass ich in 87 Gesellschaften Ehrenmitglied bin. Die engsten Verbindungen hatte ich immer zu den Veranstaltungen, wo ich glaubte, den größten Effekt erzielt zu haben. Das waren nicht Prinzen-Proklamationen oder große Fernsehauftritte, sondern berührende Auftritte, beispielsweise in Waisenhäusern bei Kindern, die körperlich und geistig gezeichnet waren. Jedes Jahr bin ich dorthin gegangen. Am Ende zählt in der Bilanz, ob man sein Talent richtig eingesetzt hat. Ich bemühe mich Tag für Tag.
Sie sind Roter Funk. Warum das Militärische?
Anfangs konnte ich keine Uniformen leiden. Nach der Gefangenschaft waren mir schon Polizeiuniformen zuwider. Bei den Roten Funken habe ich aber später die Persiflage geschätzt, das war mir sympathisch. Erste Berührung mit den Funken gab es 1953, also vor 70 Jahren. Das war Zufall. Im Altermarktspielkreis lernte ich den Literaten der Roten Funken kennen. Der hatte mich damals aufgefordert, Lieder für den Karneval zu schreiben und nicht nur für das kölsche Schauspiel. Vereidigt wurde ich 1955 und abkommandiert zum Krätzchensingen. Ich habe nie gewibbelt.
Gab es mal eine Zeit, in der nicht vor dem Aussterben der kölschen Sprache auf der Karnevalsbühne gewarnt wurde?
Nicht, das ich wüsste. Schon in den 1950er Jahren ging das los. Es kam die Zeit der Gastarbeiter, die natürlich nicht direkt den Zugang zur kölschen Sprache hatten. In meiner Kindheit gab es an jeder Schule zwei oder drei kölsche Lehrer, die sich bemühten, uns das Kölsche beizubringen. Es gibt ja das ordinäre und das gepflegte Kölsch. Ich liebe das gepflegte Kölsch, weil man hier viel mehr Herz und Gemüt sprechen lassen kann.
Zum Beispiel?
Allein der Begriff Kind. Bei uns sagt man Dötzje, Quösje, Bümmelche, Engelche, da gibt es bestimmt 15 Worte mit unterschiedlicher Bedeutung. Wenn ich sage: „Ich han dich jän“ ist das packender als zu sagen: „Ich liebe dich.“