Abseits vom ZugwegBewegende Szenen in Hüsjern und Gassen von Köln
Köln – „Stehst du noch oder gehst du schon?“, fragt ein Hippie ins Smartphone und versucht, mitten im Strom der Demonstranten an einer Straßenecke seine Familie zum vereinbarten Treffpunkt zu lotsen. Ins Stakkato von Sambatrommeln und Hubschraubern über dem Zugweg mischen sich im Severinsviertel Friedenshymnen aus Wohnungen und Geschäften: der kölsche Evergreen für Zusammenhalt „En unserem Veedel“ ist ein Hit, auch die US-Hymne der Friedensbewegung „Imagine“ von John Lennon.
Mit viel Geduld am Wegesrand
Imagine: Stell Dir vor, es ist Krieg – und so viele gehen dagegen demonstrieren. Dann gibt es Stau: „Hier steht alles, wir warten“, sagt der Hippie und hält sein Schild „Love not war“ hoch. Mit dem Spruch ist er nicht alleine an diesem Tag, der Hunderttausende mobilisiert, um ein Zeichen gegen Krieg und Diktator Putin zu setzen. „Es sind so viele Leute da, das läuft nicht“, meint ein Clown in Blau-Gelb nach einer Stunde Stillstand. „Ist doch egal, Hauptsache, wir sind auf der Straße und sind solidarisch und tun was gegen die Angst“, sagt seine Frau. Viele warten geduldig, singen, diskutieren. Ein kleines Kind fragt: „Wie ist es sonst an Rosenmontag?“: „Dann ist es lauter und alle rufen Kamelle“, meint die Mutter.
Bewegende Stimmung in Hüsjern und Gassen an und neben der Hauptstrecke. Der Weg ist das Ziel. Kein Alaaf, kein Hoch die Tassen, es wird nur hier und da mal ein Wegbier getrunken. Wenn es sich zu sehr knubbelt, suchen sich Gruppen ihre eigene Strecke kreuz und quer zu den Wagen in der Stadt, pausieren beim Picknick irgendwo auf dem Asphalt, laufen mit Kindern eine Abkürzung durch Nebenstraßen.
Friedenslieder schallen durch die Gassen
Im Vringsveedel sind Balkone und Fenster mit „Peace“-Slogans und Anti-Kriegs-Parolen dekoriert, mit „Make Fastelovend, not war“ und „Stop Putin“. Beim Karnevalsgeschäft „Principessa“ an der Ecke Severinskirchplatz haben Inhaberin Simone Hertwig und Freundinnen das Schaufenster blau-gelb umdekoriert und eine Playlist mit Friedensliedern zusammengestellt, mit der sie die Gasse beschallen. „Universal Soldier“, „While my Guitar gently weeps“, „Liebe gewinnt“. Gänsehautgefühl. Augen glitzern. Die von „Principessa“ selbst produzierten Buttons mit Friedenstauben für zwei Euro das Stück sind gefragt. Das Geld wird für die Ukraine gespendet. „Wir sehen viele entschlossene Gesichter hier. Sie wissen, was sie tun“, sagt Hertwig.
Den Tränen nah ist der frühere WDR-Kameramann Dietrich Gülicher, der mit Freunden auf Caféstühlen in der Nähe der Severinstorburg wartet. „Ich habe als Kind den Krieg in Berlin erlebt“, sagt der 83-Jährige. „Ich könnte heulen, es ist schaurig, dieser neue Krieg.“ Eine Freundin ist Uschi Hansmann, das „Ex-Bärbelche vom Hänneschen“: „Vor einer Woche habe ich noch gesagt, wir als Generation 1946 hatten die schönste, bequemste demokratische Zeit. Jetzt denke ich, ich bin im Alptraum. Putin ist unberechenbar.“
Am Haus seiner Eltern hat Rainer Büser-Meyer zu Altenschildesche Plakate an die Fassade gehängt. „Meine Großeltern haben hier schon im Krieg Karneval gefeiert.“ Ein Stück weiter winken Anwohner über dem Odeon-Kino der Demo zu.
Statt eines Filmtitels steht dort: „Stand with Ukraine, stop Putin, stop war“. Anwohnerin Kerstin, deren Mann russische Wurzeln hat, ist mit den Kindern Rosalie (3) und Baby Samuel aus der Wohnung vor die Tür gegangen und sucht sich eine Strecke mit mehr Platz für den Kinderwagen. Ihrer Tochter hat sie erklärt, warum sie demonstrieren: „Es gibt Menschen, die Unterstützung brauchen und in einer schwierigen Situation sind, dafür malen wir uns blau-gelb an.“
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Über einem Eisladen schauen Dagmar Kutsch und Josef Schnelle aus dem Fenster. „Sonst feiern wir hier immer und gucken den Zoch. Ich finde es ganz toll, dass die Demo heute stattfindet“, sagt sie, bewegt von gemischten Gefühlen zwischen Stolz auf die Kundgebung und Traurigkeit wegen des Krieges in Europa. „Wir wollen keinen Krieg!“ Statt Party gibt es an diesem historischen Tag eine Demo im kleinen Wohnzimmer.