AboAbonnieren

Interview

„Andersartigkeit und Vielfalt sind ein Gewinn.“
Warum ist Köln ein Vorbild, Herr Gauck?

Lesezeit 5 Minuten
Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident. (Archiv)

Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräsident. (Archiv)

Die Menschen in Deutschland seien verunsichert, sagt der Ex-Bundespräsident – auch durch die Folgen unkontrollierter Zuwanderung. Der 84-Jährige wirbt für gesellschaftliche Vielfalt mit klaren Regeln. Und erklärt, warum er im Osten gern vom Rheinland erzählt.

Herr Gauck, Ihr neuestes Buch heißt „Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“. Ist die Demokratie in Deutschland gefährdet?

Ich befürchte nicht den Untergang der Demokratie. So weit werden wir es mit der Erfahrung zweier Diktaturen im Hinterkopf nicht kommen lassen. Die Situation ist nicht vergleichbar mit der Weimarer Republik. Damals hatten wir eine gute Verfassung, aber zu wenig Demokraten. Jetzt haben wir zum Glück eine aktive Bürgerschaft. Gleichwohl beschreibe ich in meinem Buch, dass nicht nur in Deutschland und Europa eine Verunsicherung die Menschen ergriffen hat. Nun haben bei drei Landtagswahlen in Ostdeutschland eine Rechtsaußenpartei und eine populistische Partei von Linksnationalisten maßgebliche Stimmengewinne erlangt.

Wie erklären Sie sich die Erfolge des Bündnisses Sahra Wagenknecht und der AfD?

Fehler der Regierung und ungeregelte Probleme lösen bei einem Teil der Wählerschaft Angst aus. Wenn diese Menschen von den Parteien der Mitte keine angemessene Reaktion auf ihre Ängste erfahren, betätigen sie sich als Wählerinnen und Wähler woanders.

Warum verfangen die ausländerfeindlichen Forderungen der AfD im Osten stärker als im Westen?

Das lässt sich rational nicht erklären. Aber ein Teil des Wahlvolkes und auch einige politische Akteure sind mit rationalen Argumenten nicht mehr zu erreichen. Unsere humanitären Verpflichtungen und der Zusammenhalt in Europa interessieren die AfD nicht. Als Bürger einer Exportnation muss ich mich doch fragen: Wo soll das hinführen? Jedem, der sich unsere Wirtschaft anschaut, wird klar, dass dieses Land ohne den Zuzug von Arbeitskräften nicht erfolgreich sein kann. In Deutschland werden einfach zu wenig Kinder geboren, und es gibt einfach zu wenig arbeitsfähige und arbeitswillige Bio-Deutsche.

Warum wünschen sich viele Menschen dennoch eine Begrenzung der Zuwanderung?

Zunächst: Es ist ein Gebot der politischen Vernunft, Zuwanderung zu steuern – und, wenn nötig, auch zu begrenzen. Wenn die traditionellen Parteien der Mitte die durch die Zuwanderung mitgebrachten Probleme nicht deutlich besprechen und aktiv gegensteuern, entsteht ein Gefühl von Kontrollverlust. „Wir schaffen das“ war eine gute Botschaft. Aber wenn darauf nicht folgt, wie wir das schaffen und ganz konkrete Maßnahmen ergriffen werden, damit Zuwanderung so gestaltet wird, dass sie nicht zur Last wird, dann kann fehlende Handlungsbereitschaft zum Verstärker einer anthropologisch angelegten Angst vor dem Fremden werden.

Warum ist die AfD dann ausgerechnet in Bundesländern erfolgreich, wo der Ausländeranteil besonders niedrig ist?

So wie es Antisemitismus ohne Juden gibt, gibt es auch Fremdenfeindschaft ohne Fremde. Wenn Menschen etwas Fremdes begegnet, ist zunächst Vorsicht angesagt. Fremdheit zu empfinden, ist menschlich normal, das ist noch nichts Böses. Es kommt darauf an, wie wir mit der Fremdheit umgehen.

Wie sollten wir mit Fremdheit umgehen?

Wenn ich in Freiberg, Görlitz, Chemnitz oder an anderen Orten mit relativ wenigen Fremden spreche, erzähle ich den Menschen gerne von Orten, an denen besonders viele Fremde leben. Zum Beispiel vom Großraum Stuttgart oder von Köln.

Warum?

In Köln leben über 160 verschiedene Völkerschaften, aber die kölnischen Menschen bleiben einfach kölsch. Sie haben ihre Mundart, die ich nicht wirklich verstehe. Sie haben BAP und die Höhner und ihren Karneval, den ich als Norddeutscher überhaupt nicht brauche, sie haben ihre Fronleichnamsprozession und sie finden das alles wunderbar. Die angestammten Kölner siedeln nicht aus, sondern bleiben in ihrer Stadt beheimatet – trotz der anderen. Köln ist ihnen nicht eine fremde Stadt, sondern es ist ihr Köln. Aber wenn ich darüber an einem Ort weit im Osten spreche, dann spreche ich über etwas, was außerhalb der Erfahrungswelt der Menschen dort ist, und Erfahrungen kann man schlecht lehren.

Als Bundespräsident sagten Sie zum Thema Einwanderung: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Eines der Kapitel in „Erschütterungen“ trägt den Namen „Wie viel Einwanderung verträgt eine Demokratie?“ Werben Sie darin für eine homogene deutsche Gesellschaft?

Nein. Ich werbe für eine Gesellschaft der Vielfalt, aber nicht für eine ungeregelte Vielfalt, denn die bewirkt Verunsicherung und daraus folgt Angst. Ich möchte auch keine Vielfalt, in der wesentliche Dinge nicht geregelt sind. Wenn etwa die Rechtsordnung von zugewanderten Menschen gebrochen wird oder wesentliche Leitlinien unseres menschlichen Miteinanders missachtet werden und niemand darauf reagiert, ist das problematisch.

Was meinen Sie konkret?

Wenn die Rechte weiblicher Menschen in bestimmten türkischen und arabischen Familien nicht gewahrt werden, es zu Zwangsverheiratungen oder Gewalt gegen Frauen kommt, die einen westlichen Lebensstil gewählt haben, oder in anderen Milieus die Genitalverstümmelung von Mädchen organisiert wird, weil die jeweilige Tradition es gebietet, dann werden diese Traditionen zum Problem. Da kann man nicht zuschauen und sagen: „Andersartigkeit und Vielfalt sind ein Gewinn.“ Dann ist Andersartigkeit eine Belastung und muss besprochen werden. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Normen unseres Grundgesetzes in Frage gestellt werden. Aber das scheinen im Moment ja auch alle verstanden zu haben. Deshalb sehen wir eine deutliche Aktivierung des Staates bei der Kriminalitätsbekämpfung.

Fordern Sie eine konsequente Abschiebung von ausländischen Straftätern?

Selbstverständlich bin ich für die Abschiebung krimineller Ausländer. Auch der Bundeskanzler sagt, er wolle Straftäter konsequenter abschieben. Als politischer Beobachter weiß ich um die Herausforderungen bei der Umsetzung dieses Versprechens. Aber immerhin hören wir die entschlossene Botschaft: „Leute, wir haben verstanden. Was nicht geordnet wird, schafft Probleme.“ Und deshalb brauchen wir zweierlei: Zum einen die Erinnerung daran, was wir in diesem Land ohne Zuwanderung wären, ein wirtschaftlicher Niedergang wäre unausweichlich. Zum anderen müssen wir unsere Haltung zu ungeordneter Zuwanderung ändern und entschlossener agieren. Wir sind nicht menschenfeindlich, aber wir müssen die Akzeptanz für unsere Zuwanderungspolitik erhöhen.

Zum Schluss: Wie hoch ist die Mauer in den Köpfen fast 35 Jahre nach dem Fall der Mauer noch?

Es gibt die Mauer in den Köpfen noch. Im Osten wie im Westen. Als westliches Modell, weil man den Osten einfach nicht wahr- oder ernstnimmt. Im Osten existiert die Mauer vor allem in den Köpfen derer, die das Gefühl haben, zu kurz gekommen zu sein und sich eingeigelt haben in eine Haltung der trotzigen Abwehr und der Verdächtigung des Westens als unsolidarisch oder gar feindlich. Auch wenn wir jetzt gerade wieder so eine Welle haben, in der die Mauer in den Köpfen etwas höher zu werden scheint, wird sie à la longue verschwinden. Mentalitäten wandeln sich langsam.