Die Leiterin der Hilfsorganisation „Blau Gelbes Kreuz“ in Köln, Julia Chenusha, blickt im Interview auf das vergangene Kriegsjahr zurück.
Blau-Gelbes Kreuz in Köln im Interview„Wir wissen, wofür wir kämpfen“
Frau Chenusha, im Dezember sind Sie für zwei Wochen durch die Ukraine gereist. Warum?
Ich war dort viel mit den ehrenamtlichen Organisationen unterwegs, mit denen wir kooperieren. So konnte ich sehen, welcher Bedarf gerade besteht, was deren Probleme sind und welche Stimmung überhaupt herrscht. Das zeigt uns auch, welche Projekte in der Zukunft Sinn machen. Von Deutschland aus haben wir es meist mit Bedarfslisten und Anfragen zu tun. Weil wir unterbesetzt sind, bleibt dabei oft keine Zeit wirklich mit den Menschen zu sprechen und die Realität in der Ukraine zu spüren.
Wie ist die Stimmung vor Ort?
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Die Menschen sind an erster Stelle sehr müde. Es ist schwer, bei Angriffen und Sirenen zu schlafen. Aber die Ermüdung geht mit einer großen Wut einher. Und mit einer Dankbarkeit an alle Helfenden, auch die in Deutschland. Dafür, dass sie nicht müde werden. Ich richte diese Dankbarkeit aus erster Hand an die Menschen hier aus, damit sie wissen, dass ihre Hilfe nicht umsonst ist.
Mediale Berichte über den Krieg scheinen abgenommen zu haben.
Ja, aber nur weil weniger von Grausamkeiten berichtet wird, heißt das nicht, dass auch weniger passiert. Es sind nicht nur die Angriffe: In besetzten Regionen wie meiner Heimat Cherson sterben jeden Tag Menschen an mangelnder medizinsicher Versorgung. Überlebenswichtige Medikamente sind dort nirgendwo zu finden. Freunde von mir haben aber gar nicht erst versucht auszureisen, weil sie Berichte von Flüchtenden gesehen haben, die in ihrem Auto erschossen wurden.
Konnten Sie die Reise auch nutzen, um Angehörige zu treffen?
Mein Partner kämpft freiwillig an der Front. Ich habe ihn und auch meine Familie in Kyjiw besucht. Mein Bruder lebt dort mit seiner Frau, und sie haben vor ein paar Monaten ein Baby bekommen. Ich habe also meinen Neffen zum ersten Mal kennengelernt. Die Reise hat mich noch mehr motiviert. Wir wissen, wofür wir kämpfen.
Wie funktioniert eine Fernbeziehung zwischen Köln und der Front?
Als er mit 35 ein Testament schreiben musste, haben wir realisiert, dass es wirklich jeden Tag schiefgehen kann. Wir können nicht den ganzen Tag in Kontakt sein. Nur abends erfahre ich, ob alles gut ist. Es gab deshalb Situationen, in denen ich erst spätabends davon gehört habe, dass sehr nahe von meinem Partner eine Mine explodiert ist. Auf meiner Reise habe ich aber wieder gelernt: Das Risiko liegt nicht nur beim Militär. Auch als Zivilist musst du darauf vorbereitet sein, jeden Tag zu sterben.
Wie gehen Sie mit der Belastung um?
Wir machen weiter. Mein Team und ich stürzen sich in die Arbeit. Das ist auf der einen Seite ein Schutzmechanismus, auf der anderen Seite sind wir hoch motiviert, weil wir wollen, dass die Gerechtigkeit gewinnt. Wir müssen mehr machen, mehr kommunizieren und mehr schaffen, was zum Beispiel das Sammeln von Spenden betrifft. Ich habe mich entschieden, zu kämpfen.
Bleibt da Raum, um zu verarbeiten was passiert?
Bei uns im Team ist jeder überbelastet und trägt viel Verantwortung. Unsere Ehrenamtlichen haben ihr Leben abgegeben. Wenn sie ins Restaurant gehen, dann nur um zu essen und nicht um sich nett zu unterhalten. Alles ist für uns mit dem Krieg verbunden. Als Geschäftsführerin muss ich in jede Situation mit einem kühlen Kopf agieren, vor allem, wenn ich mit Personen aus der Politik spreche. Manchmal vergesse ich dabei, dass ich immer noch ein Mensch bin und meinen Emotionen auch mal freien Lauf lassen muss.
Gibt es ein Hilfsprojekt aus dem vergangenen Jahr, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden und der Überflutung ganzer Städte haben wir kurzfristig Sach- und Geldspenden gesammelt. Das ist auf sehr positive Resonanz gestoßen: In zwei Wochen haben wir rund 20 Lkw voller Hilfsgüter in die Ukraine geliefert. Hinzu kamen elf gespendete Rettungsfahrzeuge von Feuerwehrautos über Polizeiautos. Die Bereitschaft zu Unterstützung war definitiv ein Höhepunkt.
Welche Probleme sind aktuell am drückendsten in der Ukraine?
Ein Ziel der russischen Angriffe ist die zivile Infrastruktur. Das bedeutet nicht nur zerstörte Häuser und Straßen, sondern auch massive Stromausfälle. Wir haben bereits über 5000 Stromgeneratoren in die Ukraine geliefert und bekommen aktuell hunderte weitere Anfragen. Wir liefern oft an Kliniken, wo zum Beispiel das Leben von Neugeborenen von funktionierenden Geräten abhängt. Oft sind die Kliniken auch überbelastet. Wir appellieren deshalb an Einrichtungen in Deutschland uns alte Betten und Geräte, die noch funktionieren zu spenden. Wir holen sie ab und bringen sie in die Ukraine.
Finden Sie, die Ukraine bekommt unter den Menschen momentan genug Aufmerksamkeit?
Es gibt weitere Krisen, Kriege und Probleme. Wir als Deutsche und Ukrainer:innen fühlen mit den Betroffenen. Wir haben im vergangenen Jahr deutlich gemerkt, dass die Spendenbereitschaft runtergeht, wenn sich die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die Not anderswo verschiebt. Deshalb versuchen wir, an die Menschen zu appellieren: Der Krieg ist noch nicht vorbei. Leider. Aber je mehr wir uns dafür einsetzen, desto schneller gewinnt die Ukraine und desto schneller wird es einen gerechten Frieden in Europa geben. Das Böse in der Welt sammelt sich, wir alle merken das. Umso wichtiger ist es, dass das Gute siegt.
Spendenaufruf: Aktion „Wärme schenken“
Bis zu minus 20 Grad kalt kann der ukrainische Winter werden. Mit „Wärmepaketen“ will das Blau-Gelbe Kreuz Menschen helfen, die durch russische Angriffe in beschädigten Häusern leben oder ihr Zuhause verloren haben. Auch beschädigte Kitas oder Schulen profitieren von der Hilfsaktion. Rund 200.000 Wohngebäude sind bisher durch russischen Beschuss zerstört oder beschädigt worden. Zum Vergleich: In Köln gab es Ende 2022 insgesamt rund 140.000 Wohngebäude.
Ob Socken, Schlafsäcke, Stromgeneratoren, Thermounterwäsche, Schlafsäcke oder Campingkocher: Die Wärmepakte enthalten überlebenswichtige Dinge, um die kalte Jahreszeit im Kriegsgebiet zu überstehen. Die Lieferung übernimmt der Verein persönlich. Im vergangenen Winter brachte das Team 2000 Pakete in die Ukraine.
Mit Ihrer Spende können Sie einzelne Wärmepakete finanzieren. Das Paket für eine Person kostet 50 Euro, das für zwei Personen 150 Euro. Das Paket für 500 Euro hilft einer Familie durch den Winter, das für 2500 Euro rüstet eine Kita gegen die Kälte aus.
Sachspenden sind ebenfalls gefragt. Diese können Sie beim Lager des Vereins (Marktstraße 27, 50968) abliefern. Gebraucht werden:
- Winterschlafsäcke und Isomatten
- Stromgeneratoren und Campingkocher
- Taschenlampen mit Batterien
- Campingnahrung und hochkalorische Nahrung
- Socken, Handschuhe und Thermounterwäsche
Alle Infos gibt es online.
Der Verein
Der Blau-Gelbes Kreuz e.V. ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz in Köln. Er wurde 2014 nach der Annexion der Krim von der Kölner Linda Mai gegründet. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 leistet er Hilfe für die Opfer des Krieges, insbesondere für Kinder, Binnenflüchtlinge, Verletzte und andere stark bedürftige Menschen aus den betroffenen Regionen.
Über 1.100 humanitäre Hilfslieferungen in mehr als 125 Städte hat das Blau-Gelbe Kreuz seit dem Al 24.02.2022 in der Ukraine durchgeführt. Darunter waren mehr als:
- 2500 Rettungs-Rucksäcke für Feldärzte zur Rettung von 5 Menschenleben
- 110 Sets mit Medikamenten und medizinischen Produkten für Krankenhäuser zur Rettung von bis zu 100 Patienten
- 1820 „Babyboxen“, die alles enthalten, was Mütter und ihre Neugeborenen in den ersten drei Wochen nach der Geburt benötigen
- 5000 Stromgeneratoren für Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Lazarette und andere Einrichtungen
- 1700 Betten in Krankenhäusern in der gesamten Ukraine
- 80 Fahrzeuge, wie Krankenwagen, Evakuierungsfahrzeuge, Feuerwehrfahrzeuge, Busse und Müllwagen