In unserer Serie „Häuser mit Historie“ schauen wir auf Bauten im Schatten des Doms. Anselm Weyer stellt Kölner Bauwerke und ihre Geschichte(n) vor, ihre Funktionen, ihre Nutzungen. Dieses Mal geht es um das Justizgebäude am Reichenspergerplatz.
Serie „Häuser mit Historie“Das Schloss der Justiz am Reichenspergerplatz
Vom „Schloss“ sprach Heinrich Böll, der mehrere Jahre direkt um die Ecke, in der Hülchrather Straße 7, wohnte. In der Tat hatte das Deutsche Kaiserreich beim Justizgebäude Reichenspergerplatz geklotzt und nicht gekleckert. Für 5,6 Millionen Mark war ein Palast entstanden, der sich die großen Justizbauten, die in den vergangenen Jahren in Paris, Rom oder Brüssel entstanden waren, zum Vorbild nahm.
Als das Gebäude des Appellationsgerichts am Appellhofplatz 1907 nicht mehr ausreichte und immer mehr auswärtige Räumlichkeiten angemietet werden mussten, beauftragte man den Geheimen Oberbaurat Paul Thoemer mit einem zusätzlichen Bau für das Oberlandesgericht sowie die Zivilkammern des Landgerichts. Standort sollte ausgerechnet jener Platz sein, der den Namen des Kölner Appellationsgerichtsrats und Politikers August Reichensperger trug – und das bereits seit 1897, als noch niemand ahnen konnte, was hier zehn Jahre später entstehen sollte, nämlich ein Bau, der mit seinem Prunk die Justiz auch architektonisch Königshäusern und Klerus als gleichberechtigte Macht an die Seite stellt.
„Justitia“ ohne Augenbinde
Dass das historistische Bauwerk am Reichenspergerplatz der Justiz gewidmet ist, verrät dem geübtem Blick das von Karl Menser und Jacobus Linden gestaltete 20 Meter breite Fries über Hauptportal, wo Justitia dargestellt ist, mit dem Schwert in der rechten und dem Gesetzbuch in der linken Hand. Besonderheit ist bei dieser Darstellung, dass die römische Göttin der Gerechtigkeit hier keine Augenbinde trägt und offenbar auch nicht blind ist, denn, so wird interpretiert, die Justiz soll zwar gegen die Standesunterschiede blind sein, nicht aber hinsichtlich der Menschen, über die Recht gesprochen wird. Justitia wird flankiert von zwei Advokaten, wobei der eine offenkundig die bittende Klägerin auf der rechten Seite vertritt, während links ein unzufriedener Beklagter dargestellt ist.
Die Errichtung des Baus, der seine Schaufront als konkaven Viertelbogen ausgebildet hat, dauerte, so verraten auch die Daten links und rechts des Reliefs, von 1907 bis 1911. Einweihung feierte der fünfgeschossige Sandsteinbau mit einerseits neubarockem Säulen- und Skulpturenschmuck und andererseits modernster Ausstattung inklusive elektrischem Licht und Aufzug am 7. Oktober 1911.
Der „Justizpalast“ war das größte Profangebäude Kölns
Der „Justizpalast“, wie ihn Justizminister Maximilian von Beseler bezeichnete, war mit 12 500 Quadratmetern das größte Profangebäude Kölns und größte Gerichtsgebäude Deutschlands. Es beherbergte nicht nur Plenarsaal, 34 Sitzungssäle und 400 Geschäftszimmer sowie vier Kilometer Flur, sondern auch zudem Wohnungen. Eine ganze Häuserzeile nimmt das Gebäude ein und hat neben der zentralen Schmuckfassade noch Eckrisalite an Merlo- und Weißenburgstraße, Eck- und Mittelrisalite mit Frontispiz zur Blumenthalstraße und Hülchrather Straße. Verziert wurden die Risalite mit nicht mehr vollständig vorhandenen allegorischen Figuren, die verschiedene Völker und Zeiten sowie ihre Rechtsformen darstellen, vom germanischen Recht über das römische, das mittelalterliche und das Landrecht bis hin zum bürgerlichen Recht. Andere Figuren weisen auf die Gesellschaftsbereiche hin, über die im Inneren Recht gesprochen wird, etwa Industrie, Handel oder Verkehr.
Beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg verzichtete man 1950 auf die vollständige Rekonstruktion des Fassadenschmucks sowie des ursprünglich gestuften Dachs mit 72 Meter hohem Mittelturm, obwohl sich Kaiser Wilhelm II. diesen bei der Bauabnahme ausdrücklich für das Gebäude erwünscht hatte. Dafür versetzte man jedoch in den 1980er und 1990er Jahren das Haupttreppenhaus mit Kuppel wieder in seinen Originalzustand zurück.
Justizgebäude Reichenspergerplatz, Reichenspergerplatz 1. Paul Thoemer 1907 – 1911