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Baby auf EntzugHeroin während der Schwangerschaft – eine Kölner Mutter berichtet

Lesezeit 4 Minuten
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  1. „Alkohol, Amphetamine, Kokain, eigentlich alles“, erzählt die 28-Jährige, „und dann vor allem Heroin“.
  2. Erst im achten Monat schaffte sie den Absprung.
  3. Heute erzählt die junge Mutter ganz offen von ihren Erfahrungen.

Köln – „Er ist kerngesund“, sagt Jenny und hält ihren quirligen Sohn Tyler auf dem Stuhl fest. Sie klingt selbst erstaunt. Hübsch, lebendig, aufgeweckt, so hält der Anderthalbjährige seine Mutter in Atem. Und das, obwohl sie während eines Großteils ihrer Schwangerschaft Drogen genommen hat.

„Alkohol, Amphetamine, Kokain, eigentlich alles“, erzählt die 28-Jährige, „und dann vor allem Heroin“. Sie lebte auf der Straße, war aus Siegen nach Köln gekommen, „weil ich hier meine Sucht besser finanzieren konnte“. Erst im achten Monat schaffte sie den Absprung: Mit dickem Babybauch ging sie in die Substitutionsambulanz am Neumarkt und bat um Hilfe.

Heute erzählt sie offen von ihrem bisherigen Weg: „Ich bin stolz auf das, was ich geschafft habe.“ Sie kam in eine Klinik, wurde dann in ein Substitutionsprogramm aufgenommen, bei dem die Substanz L-Polamidon das Heroin ersetzte. „Einfach aufhören, das hätte dem Baby zu sehr geschadet“. Denn das Kind im Bauch ist genau so abhängig wie seine Mutter.

Baby auf Entzug

Deshalb wurde Tyler „geboren mit Entzugserscheinungen“, erinnert sich Jenny. Typisch sind schrilles Schreien, Durchfall, Erbrechen, „ein schlimmer Anblick“, weiß Dr. Marc Hoppenz aus seiner Erfahrung als Oberarzt der Neonatologie im Krankenhaus Holweide. Tyler wurde im Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße behandelt. Er musste zunächst weiter L-Polamidon bekommen und dann schrittweise entwöhnt werden.

Tyler wohnt jetzt mit seiner Mutter in einer Einrichtung des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF). Sie nimmt noch L-Polamidon, baut die Ersatzdroge aber immer weiter ab. Nicht einfach bei einem oft anstrengendem Leben allein mit Kind. Geholfen hat ihr ein Angebot des SkF, der Kurs „Schwangere und Mütter in Aktion (SIA)“. „Da bin ich oft mit mieser Stimmung rein gegangen und mit guter wieder rausgekommen.“

Der Kurs hilft

Den Suchtkonsum in den Blick nehmen will der Kurs SIA, „Schwangere und Mütter in Aktion“, den der Sozialdienst katholischer Frauen regelmäßig anbietet. Er richtet sich an alle Frauen vor oder nach der Entbindung, die mit Abhängigkeiten egal welcher Art zu tun haben und sich Unterstützung wünschen. Er umfasst fünf bis zehn Termine à 1,5 Stunden. Wer Interesse hat, kann Kontakt aufnehmen über Esperanza, die Schwangerenberatung des SkF, unter Tel. 0221/12695180.

Sandra Wirz und Iris Objartel, die Kursleiterinnen, geben Frauen mit Suchtproblemen einmal in der Woche einen geschützten Raum, in dem sie sich austauschen können, Halt bekommen und Informationen darüber, was die Abhängigkeit für sie und das Kind für Folgen haben kann. „Wir geben Tipps, wie die Mutter-Kind-Bindung gestärkt werden kann. Oder wie sie sich selbst eine Auszeit nehmen können“. Im Baby-Stress sollen die Frauen nicht wieder in alte Muster zurückfallen.

Dabei geht es um alle Arten von Sucht: die nach Zigaretten, die nach Medikamenten, die nach dem Handy. Am schädlichsten für das ungeborene Kind ist der Alkohol. „Und der ist legal“, sagt Jenny. Entrüstung schwingt mit. „Es gibt heute noch Ärzte und Hebammen, die den Frauen ein Gläschen Wein erlauben“, erklärt Sandra Wirz, „aber das ist falsch“.

Der Alkohol könne vom Kind nicht abgebaut werden; deshalb habe es noch Alkohol im Blut, wenn die Mutter schon längst wieder nüchtern sei. Je nach Entwicklungsstand können die Folgen sehr schlimm sein: Wachstumsstörungen, Missbildungen des Gesichts, Störungen des zentralen Nervensystems. Die Fetale Alkoholspektrumsstörung (FASD) ist mittlerweile als Diagnose anerkannt (siehe auch Interview). Nach Angaben der Informationsplattform Nacoa über Kinder aus Suchtfamilien gibt es in Deutschland jährlich 3000 bis 4000 Neugeborene mit Schäden durch Alkohol in der Schwangerschaft.

Jenny trinkt nichts mehr, nimmt keine Drogen, nur den Ersatzstoff. Wenn sie es geschafft hat, 14 Tage ganz ohne auszukommen, darf sie eine Therapie in einer Klinik antreten. Tyler nimmt sie mit. Was ihr damals den Antrieb gab, den Schritt von der Straße in die Ambulanz zu machen? „Na, er!“ sagt sie und nickt zu ihrem Sohn, dessen Kletterversuche sie nicht einen Moment aus den Augen verliert.

Und was fällt ihr heute noch schwer? Was sind die Schwierigkeiten, die sie im Alltag bewältigen muss? Jennys Blick weicht aus, die Stimme wird brüchig: „Es ist ja nicht so, dass alles toll ist und ich keine Probleme mehr habe.“ Lieber davon reden, was sie schon geschafft hat, lieber nach vorn blicken. Denn da liegen Ziele: Sie will die Therapie machen, clean bleiben. Und zurück in die Heimat, nach Siegen. Denn da gibt es noch die Tochter, neun Jahre alt, die beim Vater lebt. Der „möchte ich mich irgendwann wieder annähern.“