AboAbonnieren

Rückblick Flutkatastrophe im Kreis Euskirchen„Wir haben Leuten beim Sterben zugehört“

Lesezeit 5 Minuten
Ein Feuerwehrauto fährt mit Blaulicht in der Dämmerung über eine überflutete Straße.

Einsatzkräfte zu Leuten in Not schicken, das ist die Aufgabe der Disponenten in der Leitstelle. In der Flutnacht ist das irgendwann nicht mehr möglich.

Dieser Text gehört zu den meistgelesenen 2023: In der Nacht vom 14. zum 15. Juli 2021 kommen Tausende Notrufe in der Leitstelle des Kreises Euskirchen an.

Es ist der 14. Juli 2021. Es regnet. Seit Stunden. Verena Beul-Zöll hat Dienst in der Rettungsleitstelle des Kreises Euskirchen. Die 37-Jährige arbeitet seit 2007 im Rettungsdienst, seit 2015 ist sie Notruf-Disponentin. Sie hat schon viele Ausnahmesituationen erlebt. Doch was an diesem Abend über sie, über ihre Kollegen und alle Feuerwehrleute und Rettungskräfte im Kreis hereinbricht, stellt alles Bisherige in den Schatten.


Dieser Text gehört zu den meistgelesenen Inhalten des Jahres 2023 und wurde erstmals am 13. Juli 2023 veröffentlicht.


Innerhalb der ersten 24 Stunden der Flutkatastrophe gehen laut Leitstellenleiter Markus Neuburg 7900 Notrufe ein. Gegen 19 Uhr verschärft sich die Lage. Bis zu 600 Notrufe sind es pro Stunde, teilweise 70 gleichzeitig: „Das ist eine Masse, die ist nicht bewältigbar.“

Flutkatastrophe 2021: Die Disponenten konnten keine Hilfe mehr schicken

Die Erfahrung müssen Beul-Zöll und ihre Kollegen machen. Das Telefon habe ohne Unterlass geklingelt, die Warteliste sei immer weiter gewachsen, erinnert sie sich. Es wird noch schlimmer: Sie telefonieren zwar noch mit den Menschen, können aber keine Retter mehr schicken. Beul-Zöll: „Das war dramatisch.“

Verena Beul-Zöll sitzt in der Leitstelle vor ihren Computerbildschirmen. Die 37-Jährige war auch in der Flutnacht als Disponentin im Einsatz.

Wird die Flutnacht nie vergessen: die Leitstellen-Disponentin Verena Beul-Zöll.

Sie und ihre Kollegen müssen an diesem Abend Menschen in Not sagen, dass so schnell keine Hilfe kommt. Obwohl genau das ihr Job ist: Hilfe zu schicken. Doch die Flut ist zu gewaltig. In manche Gebiete im Kreis können die Feuerwehren nicht mehr fahren. Ohnehin sind sie im Dauereinsatz, können nicht allen gleichzeitig helfen.

Wir konnten nichts mehr tun. Wir haben Leuten am Telefon beim Sterben zugehört.
verena Beul-Zöll

Für Beul-Zöll und ihre Kollegen bedeutet das: „Wir konnten nichts mehr tun. Wir haben Leuten am Telefon beim Sterben zugehört.“ Sie erinnere sich beispielsweise an einen Anrufer, der in einem Baum hing und irgendwann einfach keine Kraft mehr gehabt habe.

„Das war für Disponenten höchst belastend“, sagt Neuburg: „Schlimmer geht es wirklich nicht mehr.“ Das Beklemmende: Die Disponenten in der Leitstelle erfahren in dieser Nacht bei vielen Anrufern nicht, was aus ihnen wird.

Die Disponenten konnten während Flut nicht am Telefon bleiben

Im Alltag nehme ein Disponent einen Notruf entgegen, disponiere die Einsatzkräfte und bleibe oft so lange am Telefon, bis die Hilfe vor Ort sei, erklärt Neuburg. Danach sei er weiterhin Ansprechpartner für die Einsatzkräfte und erfahre dadurch, ob und wie den Menschen in Not geholfen werden konnte. Nicht so in der Flutnacht.

In solchen Flächenlagen teile man sich die Arbeit in der Leitstelle auf, sagt Neuburg. Die einen nehmen die Notrufe an und geben alle wichtigen Informationen ins System ein. Die anderen disponieren, also schicken Einsatzkräfte. Und weil in der Fluchtnacht so viele Notrufe gleichzeitig ankommen, können die Disponenten auch nicht am Telefon bleiben, bis Hilfe vor Ort ist.

In vielen Fällen habe man als Disponent gewusst, dass die Leute erstmal auf sich alleine gestellt sind, so Neuburg weiter. Ob die Menschen die Nacht überlebt haben, haben die Disponenten nicht erfahren. Eine derart ungeheure psychische Belastung könne eine Posttraumatische Belastungsstörung auslösen, sagt Neuburg. Deshalb habe es für die Disponenten in der Leitstelle wie für alle anderen Einsatzkräfte, die während der Katastrophe im Dienst waren, psychosoziale Notfallversorgung gegeben.

Am 15. Juli ist der Notruf im Kreis Euskirchen nicht erreichbar

Am Morgen des 15. Juli ist es die Flut selbst, die den Menschen in der Leitstelle eine Pause verschafft: Um 7.15 Uhr fällt der Notruf aus. Die Vermittlungsstelle der Telekom ist überflutet. Alle Telefonverbindungen sind gekappt. Die Leitstelle ist nicht mehr erreichbar. Bei Beul-Zöll und ihren Kollegen ist plötzlich alles ruhig. Draußen herrscht die Katastrophe, in der Leitstelle ist es still. Eine surreale Situation. Aber für die Disponenten ist auch endlich mal Zeit zum Durchatmen.

Notrufe werden an die 110, die Leitstelle der Polizei, weitergeleitet. Gegen 23.30 Uhr sei die Leitstelle über die 112 wieder erreichbar gewesen, berichtet Neuburg. Für viele sei der Notruf in Gänze viel länger ausgefallen, weil Festnetz und Mobilfunknetze in den Flutgebieten zusammengebrochen waren.

Flut 2021: Chef der Leitstelle eilt aus dem Urlaub ins Katastrophengebiet

Neuburg selbst ist an dem Tag der Flut im Urlaub in Österreich. Als ihm am 15. Juli das Ausmaß der Katastrophe bewusst wird, setzt er sich ins Auto. Einen Tag später steht er in der Leitstelle. Dort sind viele seiner Kolleginnen und Kollegen mehr als 48 Stunden im Einsatz. Zum einen, weil sie helfen wollen, zum anderen, weil sie schlicht nicht nach Hause kommen. Viele Straßen sind noch überflutet oder gesperrt. Manch einer habe den Heimweg angetreten und wieder umdrehen müssen, sagt Neuburg. Sie habe zwischendurch irgendwie im Stuhl geschlafen, erinnert sich Beul-Zöll.

15.000 Notrufe seien in den ersten zehn Tagen ab dem 14. Juli bei der Leitstelle eingegangen, sagt Neuburg. So viele wie sonst in knapp vier Monaten.

Video zeigt die Flutkatastrophe im Kreis Euskirchen

Zahlreiche Videos vom 14. und 15. Juli 2021, den Tagen der Flutkatastrophe im Kreis, haben unsere Leser uns zur Verfügung gestellt. Wir haben sie in einem Film zusammengestellt.


Notrufe bei Katastrophen priorisieren

„Wir wissen nie, wenn es klingelt: Was verbirgt sich dahinter“, sagt Markus Neuburg. Der 44-Jährige ist seit 2020 Leiter der Rettungsleitstelle im Kreis Euskirchen. Die Flutkatastrophe hat ihm ein Problem des Notrufs vor Augen geführt: In Großlagen rufen unzählige Leute an, aber für die Disponenten ist nicht ersichtlich, wer davon einen lebensbedrohlichen Notfall hat. Oder wie Neuburg es beschreibt: „Wie finde ich den Herzinfarkt?“

Aktuell werden die Anrufe der Reihe nach abgearbeitet, im Alltag kein Problem. Lange Wartelisten gibt es da nicht. Aber bei Großereignissen wie der Flut kann es dauern, bis man an der Reihe ist. Für Menschen in Lebensgefahr geht wertvolle Zeit verloren. Neuburg will das ändern. In Zwickau gebe es ein Projekt, bei dem vor die Leitstelle eine automatische Priorisierung geschaltet werde.

Das bedeutet: Wer die 112 anruft, wird von einer Computerstimme gefragt, ob er sich in Lebensgefahr befindet oder ob ein anderer Notfall vorliegt, und muss dann eine entsprechende Nummer drücken. Ähnlich, wie die Anrufe bei Callcentern sortiert werden. Solch ein System kann sich Neuburg für Flächenlagen wie die Flutkatastrophe im Kreis gut vorstellen. Dann könne ein Team die Anrufe von Menschen in Lebensgefahr entgegennehmen, ein anderes die weniger schweren Fälle, erklärt er. Der Herzinfarkt werde schneller gefunden und Einsätze könnten noch besser priorisiert werden. (jre)