In unserer Stilkolumne „Wie geht's?“ erklärt Sterne-Gastronom Vincent Moissonnier dieses Mal den Umgang mit einem stark alkoholisierten Gast.
Vincent MoissonnierWas zu tun ist, wenn jemand am Tisch zu viel Alkohol trinkt
Wir kennen die Situation vor allem von Geschäftsessen unter – meist männlichen – Kollegen. Die kommen für eine wichtige Besprechung aus ganz Deutschland angereist. Natürlich schwer im Stress. Dann wird bestellt, man redet, man isst. Und dann reißt im Verlauf des Abends einer aus der Runde mehr und mehr das Gespräch an sich. Meistens einer, der ohnehin schon viel zu sagen hat. Ein Senior-Partner – oder so. Die Junioren würden sich das nämlich nicht trauen, sind qua Position zurückhaltend. Proportional zur Flüssigkeit der Konversation steigt auch die Geschwindigkeit seines Weinkonsums. Der Service erkennt das daran, dass er das Glas nicht schluckweise, sondern auf einmal leert. Und man spürt genau: Das ist einer, der muss sich für nichts mehr entschuldigen.
Bald kommt es zu ersten Auflösungserscheinungen: Der Tonfall wird jovial, der Krawattenknoten sitzt nur noch lose, das Jackett landet über der Stuhllehne, die Gesichtsfarbe nimmt wechselnde Rottöne an. Gegensteuern ist schwierig. Man kann beim Servieren des Weins etwas seltener an den betreffenden Tisch gehen oder weniger nachschenken. Streng genommen, haben wir in der Gastronomie sogar eine gewisse Verpflichtung: Wir dürften zum Beispiel niemanden schwer alkoholisiert aus dem Lokal gehen lassen, wenn wir wissen, dass diejenige Person noch Auto fahren will. Das führt aber nicht selten zu Ärger aufseiten des Gasts.
Typische Reaktion: den Zeigefinger mittig an den Glasrand legen – wie beim Pegelstandsanzeiger. Die Begleiter versuchen es gelegentlich mit Bemerkungen von der Art: „Ach nein, danke, keine neue Flasche mehr – wir müssen morgen alle früh raus.“ Auch das hilft aber nicht unbedingt, denn „unser Mann“ ordert dann eben glasweise. Oder er geht zu den hochprozentigen Digestifs über, was das Ganze eher noch schlimmer macht. Ein anderes Manöver lautet: Ablenkung. Die Tischbegleiter schneiden einfach andere Themen an oder beginnen untereinander zu reden. Aber bei jemandem, der sein Selbstwertgefühl auch nach dem Grad der ihm geschenkten Aufmerksamkeit bemisst, wird auch das nicht viel fruchten.
Mein Ratschlag wäre ja: Charakter zeigen! Grenzen setzen! Aber geht das wirklich in Runden mit klarer Hierarchie und großem Machtgefälle? Gelegentlich hilft da tatsächlich persönliche Verbundenheit, am ehesten die zwischen Ehepaaren: Im richtigen Moment die Hand dezent auf den Unterarm des Problemfalls legen, nicht viele Worte machen, vielleicht nur ein langer, unverwandter Blick mit hochgezogenen Augenbrauen … Ich habe es tatsächlich schon erlebt, dass diese kleinen Signale, diese sprechenden Gesten zu einem Stimmungsumschwung ins Positive führten. Meistens aber naht Rettung nur dadurch, dass die Runde sich auflöst. Das geschieht aber in der Regel recht schnell, weil alle am Tisch – mit einer Ausnahme – einen ausgeprägten Fluchtreflex zeigen: Bloß weg hier! Aufgezeichnet von Joachim FrankHaben Sie auch eine Frage zum guten Stil? Senden Sie uns diese bitte per Mail an: stilkolumne@dumont.de