Frau Grünewald, im Märchen verkörpern Stiefmütter oft das Böse. Wie ist es im wirklichen Leben?
Stiefmütter können sehr bereichernd sein! Sie haben zum Beispiel nicht den verklärten Blick der Mutter und sehen andere Dinge. Die gemeine Stiefmutter im Märchen von Aschenputtel hat ja auch irgendwie Recht, wenn sie sie nicht mit zum Ball nimmt: Aschenputtel hatte nichts zum Anziehen. Märchen sind aufgeschrieben worden, weil sie zentrale Lebensmuster in ein Bild bringen. Bei Hänsel und Gretel kann man auch das Pragmatische der Stiefmutter verstehen.
Aber in dem Märchen schickt die Stiefmutter die Kinder in den Wald!
In den alten Märchen ist nachträglich dazugeschrieben worden, dass die Mutter eine Stiefmutter war. Aber die Mutter ist gleichzeitig auch immer Stiefmutter, die Mutterfigur hat zwei Seiten. Die eine schickt die Kinder weg. Sonst ist keine Entwicklung möglich. Die Hexe nimmt die Kinder erst fürsorglich auf und will sie dann fressen. Die Kinder haben fast keine Chance zu entkommen. Das passiert oft, wenn Mütter Kinder zu sehr behüten und kontrollieren. Beide Seiten für sich alleine sind grausam, das Leben spielt sich aber dazwischen oder in einem Hin und Her ab.
Sie haben in Ihrer Kölner Praxis zwei Jahre lang eine Gruppe Stiefmütter betreut. Wie wird man denn eine gute Stiefmutter?
Indem man als erstes akzeptiert, dass es die gute Stiefmutter nicht gibt. Das ist der Zahn, den ich den Frauen als erstes ziehe. Wer weiß denn schon, was richtig und was falsch ist? Diese Schablonen werden einem oft von der Gesellschaft aufgedrückt, dabei kommt es auf die Situation und den Menschen an.
Welche Stiefmütter kommen zu Ihnen?
Es kommen Frauen, die merken, dass sie sich irgendwie in der Klemme befinden. Oft ist es so, dass die Beziehung zum Partner sehr gut funktioniert. Doch wenn Kinder dazukommen, wird es total verkrampft.
Warum?
Viele Stiefmütter haben einen perfektionistischen Anspruch an sich selbst und gehen offen und mit großer Freude an ihre neue Rolle heran. Trotzdem kippt die Beziehung mit dem Stiefkind. Das liegt meist daran, dass Stiefmütter ein ideales Bild davon haben, wie sie sich das Kind wünschen. Sie kochen das Lieblingsessen, machen tolle Ausflüge und gestalten die Kinderzimmer. Dabei orientieren sie sich meistens nicht an der Realität des Kindes, sondern an der Vorstellung, was sie sich als Kind von ihrer Mutter gewünscht hätten. Und dann kommen ganz schräge Dinge raus.
Weil man das Lieblingsessen falsch zubereitet, wird man also zur bösen Stiefmutter?
Häufig ist es so, dass das Kind das Essen ablehnt und die Stiefmutter das persönlich nimmt. Sie denkt: "Das Kind will mich zur Weißglut treiben" und geht auch zum Angriff über. Irgendwann kommt sie mit dem Partner in Konflikt, weil sie sich über das Kind beschwert und er es in Schutz nimmt. Die Stiefmütter entdecken dann diese neuen, wütenden Seiten an sich und verzweifeln, weil sie dem Kind gegenüber Abneigung empfinden.
Wie kann man das umgehen?
Die Falle ist, dass die Stiefmutter denkt, sie müsse einem bestimmten Bild entsprechen. Ich empfehle, sich diese Rollenkorsetts bewusst zu machen und sich davon zu lösen. Meine Beratung basiert darauf, dass im Alltag Bilder Regie führen. Wir haben Bilder vom Muttersein, sei es durch die Gesellschaft oder unserer eigenen Mütter, die uns selbst Mutter sein lassen. Man agiert so lange danach, bis man merkt, dass das Kind das gar nicht will. Dann muss man in seinem Bild etwas umbauen und überlegen: Wo finde ich einen Zugang zum Kind und was möchte ich selbst? Wenn ich es hasse, ins Phantasialand zu gehen, dann muss ich das dem Kind nicht anbieten. Auch ein Kind muss schließlich mit den Vorstellungen der anderen Person.
Darf man denn als Stiefmutter überhaupt Regeln setzen und in die Erziehung eingreifen?
Eine Erziehungsberechtigung muss man sich erst verdienen. Und die verdient man sich, indem man authentisch Interesse am Kind zeigt. Kinder akzeptieren Regeln von Menschen, die sie wertschätzen, die sie ernst nehmen und bei denen sie merken, dass sie wohlwollend sind. Wenn sie denken, die Stiefmutter würde ihnen etwas wegnehmen, werden sie misstrauisch. Dann kommt der Satz: Du hast mir gar nichts zu sagen.
Ein anderer Satz ist: Bei meiner Mama darf ich aber. . .
Kinder haben kein Problem, zwischen den unterschiedlichen Regeln in den Familien zu switchen. Die Regeln müssen nur klar sein. Wenn sie bei Mama eine Stunde fernsehen dürfen und bei Papa nur eine halbe, dann verstehen sie das. Man hat eben diese Eltern und Kinder nehmen das auch an.
Sind Stieffamilien ein neues Phänomen?
Nein, früher war die klassische Stieffamiliensituation, dass jemand gestorben ist. Obwohl es sie schon so lange gibt, sind Stieffamilien dennoch sozusagen das Stiefkind der Familienforschung. In anderen Ländern, wie zum Beispiel Österreich, ist man da schon viel weiter. Bei uns ist es heute so, dass viele Menschen, die in verschiedenen Städten wohnen, sich über das Internet kennenlernen. Die Elternteile ziehen mit ihren Kinder manchmal schon sehr schnell zusammen. Dadurch gibt es heute mehr Patchworkfamilien.
Das Wort klingt viel besser als Stieffamilie.
Patchwork ist lebensfroh, mittlerweile en vogue, bunt, lebendig. Dieses Bild wird dem Begriff von Vorzeige-Patchworkfamilien wie den Schweigers und Beckers in der Öffentlichkeit angelastet. Oder in der ARD-Serie "Türkisch für Anfänger" hat das Chaotische eine sehr liebevolle Konnotation. Doch die Arbeit - das "work", das in Patchwork steckt - wird nie gezeigt. Auch nicht in der Literatur. Das finde ich bedenklich. Ich habe mein Angebot bewusst "Stiefmüttergruppe" genannt. Viele Frauen hat das gestört, das klänge zu negativ. Sie wollten nicht wahrhaben, dass das Schwierige auch dazu gehört. Aber die Voraussetzung für eine Patchworkfamilie ist Lust auf Auseinandersetzung.
Was sollte denn die Popkultur mal thematisieren?
Da ist nicht nur die Popkultur gefragt. Ich sehe es auch als Aufgabe der Regierung an, diese Kinder aufzufangen - am besten schon direkt in der Schule. Oft ist es gerade dort noch ein Tabu zu sagen: Ich bin traurig, weil ich meinen Papa nur selten sehe.
Und was muss sich in der Familie verändern?
Für Kinder ist es schon ein schwerer Prozess zu akzeptieren, dass jetzt ein neuer Mensch in der Familie ist, der eventuell sogar Aufgaben oder Privilegien übernimmt, die es vorher vielleicht selbst hatte. Deswegen ist Struktur in einer Patchworkfamilie enorm wichtig. Auch das Paar braucht Zeit für sich, schließlich basiert die ganze Familie auf diesem Paar. Je selbstverständlicher und häufiger man das zelebriert, desto besser können das die Kinder akzeptieren. Und wenn es unter den Kindern Eifersucht gibt, zum Beispiel aufgrund eines neuen Geschwisterchens, dann muss man darauf ernsthaft reagieren und überlegen, wie man mit dem Gefühl umgeht.
Das hört sich alles ein bisschen müßig an. Ist denn gar nichts an dem bunten Bild der Patchworkfamilie dran?
Doch, es gibt jede Menge Vorteile! Die Kinder haben eine erwachsene Bezugsperson mehr und bekommen darüber hinaus eine Vielfalt an Beziehungsformen mit. Das erweitert den Horizont der Kinder und sie gestalten ihre eigenen Beziehungen reicher. Und die Stiefmutter hat auch ein paar Privilegien: Sie kann sich die Rosinen rauspicken.