Sie ist die einzige Frau auf der Bühne – und zeigt tänzerische Spitzenleistung. Wie ist es, Funkemariechen bei einem Traditionskorps zu sein?
Höher, schneller, weiterHöchstleistung im Karneval – unterwegs mit dem Mariechen der Roten Funken
Der Propeller dreht sich. Schneller. Schneller. Schneller. Der Tanzoffizier trägt das Mariechen auf einem Arm. Den anderen Arm hat er ausgestreckt, der Körper dreht sich im Kreis. Flach liegt sie mit dem unteren Rücken auf seiner Hand, Arme und Beine gestreckt, allerhöchste Körperspannung. Mit jeder Runde, in der er sie weiter durch die Luft wirbelt, jubelt das Publikum lauter und atemloser und schon bald hört man kaum noch, dass die Kapelle Musik spielt. „Nie mehr Fastelovend“ von Querbeat. Den Propeller, so heißt diese beeindruckende Figur, zeigt im Kölner Karneval in dieser Form nur ein Tanzpaar: das der Roten Funken.
Seit 1823, also seit 201 Jahren, gibt es dieses älteste aller Traditionskorps. Es ist so alt wie der organisierte Karneval selbst. Wer hier die traditionsreiche Rolle der Marie tanzen darf, ist sowas wie die Primaballerina des Karnevals. Nur eben nicht in Tutu, Dutt und Spitzenschuhen, sondern mit blonden Zöpfen, Federhut, kurzem Röckchen und Stiefeln. Und das Publikum sitzt nicht wohlerzogen in Abendgarderobe im Saal, es feiert und grölt und schunkelt, verkleidet als Pinguin, Krankenschwester und Cowboy, während sich ein Kölschkranz nach dem anderen leert. Wie ist das, in so einer Atmosphäre tänzerische Höchstleistung zu zeigen? Wie viel muss man trainieren, um eine Figur wie den Propeller auf der Bühne zeigen zu können? Und wie hat er sich überhaupt entwickelt, dieser kölscheste aller Tänze? Das haben wir Choreographin Biggi Fahnenschreiber gefragt. Und wir haben das Tanzpaar der Roten Funken, Elena Stickelmann und Florian Gorny, einen Abend lang begleitet.
Es ist 17.50 an diesem Samstag, als die Roten Funken das Hotel Pullmann fluten. Sie sind ein bisschen spät dran, der Bus stand auf dem Weg vom Chlodwig- zum Friesenplatz im Stau. Um 18.00 sollen sie die Karnevalssitzung eröffnen, gerne ein paar Minuten früher. Eigentlich müsste sich das Tanzpaar aber noch warm machen. Und zur Toilette muss das Mariechen auch. Die Stimmung ist trotz allem entspannt. Um 17.53 beschließt das Mariechen, zu gehen. Ohne sie können die Funken eh nicht anfangen. So ist das, wenn man die karnevaleske Primaballerina ist. Als sie wiederkommt, hat die Kapelle im Foyer schon angefangen zu spielen. Schnell dehnen sie und der Tanzoffizier nochmal ihre Beine, die Atmosphäre ist kribbelig, es geht jetzt los. Rund 120 Funken ziehen in den Saal ein, den krönenden Abschluss bildet das Mariechen, das der Tanzoffizier auf Händen trägt. Dann beginnt das Programm: Die Roten Funken wibbeln, drehen sich gegenseitig den Rücken zu und wackeln mit den Hintern, zeigen das Gewehr und stehen wieder still – eine Persiflage auf die strenge Herrschaft der Preußen, an der man sich im frühen Karneval so gerne abgearbeitet hat. Und dann heißt es: „Mariechen danz!“ Und das Mariechen tanzt.
Neun Traditionskorps gibt es heute im Kölner Karneval, neben den Roten sind das die Blauen Funken, die EhrenGarde, die Prinzen-Garde, die Altstädter, die Nippeser Bürgerwehr, die Bürgergarde blau-gold, der Treue Husar und das Reiter-Korps Jan von Werth. Sie alle sind reine Männergesellschaften, sie alle haben ein Tanzpaar. Und somit ist das Mariechen die einzige weibliche Person zwischen all den Herren.
„Und am Anfang waren sogar die Mariechen Männer“, erzählt die Kölner Choreographin Biggi Fahnenschreiber, 92 Jahre alt und eine echte Legende in der kölschen Tanzszene. „Man hat den Frauen einfach nicht zugetraut, so eine harte Karnevalssession durchzustehen.“ Oder vielleicht wollte man einfach keine Frau in der Männergesellschaft haben. Zwar trat in den 1920er Jahren wohl hier und da schon mal eine Frau als Mariechen auf, doch so richtig änderte sich das erst unter den Nationalsozialisten. Aus Angst vor „Transvestitismus“ sollten alle Mariechen bitte von Frauen getanzt werden. Anders war das übrigens von vorneherein in den Karnevalstanzgruppen: Hier tanzten Frauen UND Männer. So zum Beispiel bei Kölns ältester Gruppe, den „Hellige Knäächte un Mägde“ von 1823.
Und genau bei dieser Gruppe war das Mariechen, das jetzt oben auf der Bühne steht, zuvor acht Jahre lang aktiv. Zum Karnevalstanz kam Elena Stickelmann mit 18 Jahren, eine Schulfreundin hatte sie eingeladen, bei einem Probetraining mitzumachen. Vorher spielte sie Tennis und turnte – eine gute Basis in Sachen Beweglichkeit. Stickelmann erzählt: „Als kleines Mädchen hatte ich gar nicht den Traum, mal Funkemariechen zu sein.“ Anders als die Funkenkinder – Töchter und Söhne der erwachsenen Roten Funken, die an manchen Tagen in kleinen Uniformen mit auf die Bühne dürfen, wibbeln und das Mariechen anhimmeln.
Erst seit dieser Session ist Stickelmann das Mariechen, im vergangenen Jahr an Karnevalsdienstag bewarb sie sich um die Rolle und hatte sie am Sonntag nach Aschermittwoch inne. Drei Tage lang dauerten die Vorauswahlen, 22 Mädchen hatten sich beworben. „Mit 18 hätte ich mich das nie getraut, aber mit 26 fühlte ich mich bereit dazu.“ Stickelmanns Tanzoffizier Florian Gorny hingegen hat das Tanzen „im Blut“. Seine Eltern tanzten bei den „Monheimer Altstadtfunken“. „Als meine Mutter im vierten Monat schwanger war, war ich schon mit auf der Bühne“, erzählt er lachend. Mit vier Jahren begann er in der Kindertanzgruppe in Monheim und kam nach Stationen bei verschiedenen Kölner Karnevalstanzgruppen vor fünf Jahren zu den Roten Funken. Seit 22 Jahren hebt er Tänzerinnen durch die Luft.
Zwei- bis dreimal pro Woche werden Gorny und Stickelmann für je eineinhalb Stunden von Ballettmeisterin Andrea Schug trainiert. Das abendliche Training lässt sich gut in ihr bürgerliches Leben integrieren – Stickelmann ist Journalistin bei dieser Zeitung, Gorny Heizungs- und Sanitärinstallateur – doch während der Session müssen die beiden schon ab und an Urlaubstage nehmen. Nach Aschermittwoch gibt es dann eine kurze Pause, danach wird bis Weihnachten trainiert. Und das sieht man: Hier sitzt jeder Schritt, jede Hebung, jeder Wurf perfekt. Jedes Aufstampfen mit den Stiefeln, jedes Klatschen mit den Händen, jede Kopfdrehung fügt sich harmonisch in die Musik ein. Wenn das Mariechen die Beine in die Luft wirft, dann berührt sie fast ihre Nasenspitze und der Tanzoffizier geht bei seinen Tiefschritten so tief in die Hocke, dass er fast auf dem Boden sitzt. Das Mariechen und ihr Tanzoffizier füllen die Bühne mit ihrer Ausstrahlung, sie bewegen sich im Einklang, lächeln, spornen das Publikum an.
Dieser Ausdruck falle ihm nicht schwer, erzählt Gorny später. „Es gibt nichts Schöneres als in den Saal einzuziehen und die Leute jubeln zu hören. Das ist einfach so ein tolles Gefühl, da kann ich gar nicht anders als lachen.“ Am Karnevalstanz mag er die Abwechslung. „Wir mischen Samba, Rumba und andere Elemente aus dem Paartanz mit Akrobatik und Showtanz. Dazu die Tiefschritte und Battements, die hohen Beine, das macht einfach Spaß“, sagt Gorny. „Vieles kommt aber auch aus dem Ballett“, ergänzt Stickelmann. „Die Grundlagen, die Hebungen, die Battements.“
Dass das so ist, liegt vor allem an Biggi Fahnenschreiber und ihrem langjährigen Tanzpartner Peter Schnitzler. Die beiden haben als Ballett-Tanzpaar unter anderem an den Bühnen der Stadt Köln getanzt, aber auch viel „getingelt“ – also auf Veranstaltungen außerhalb getanzt. So wurden sie regelmäßig als „Kulturprogramm“ für Karnevalssitzungen gebucht, erinnert sich Fahnenschreiber. Schon während und dann nach ihrer aktiven Tanzkarriere haben beide Karnevalstänzerinnen und -tänzer trainiert. „Vorher gab es gar keine richtigen Choreographien im Karnevalstanz“, sagt Fahnenschreiber. „Wir haben die Musik in Tanz umgesetzt und klassische Elemente aus dem Ballett wie die Hebungen eingebracht.“ Vor allem aber auch die Haltung: Rücken gerade, Schultern runter, Kopf heben und Körperspannung bis in Finger- und Zehenspitzen.
Der mittlerweile verstorbene Schnitzler wurde gerne als Choreograph engagiert, vor allem für die Mariechen und ihre Offiziere in den Traditionskorps. „Aber ich hatte es schwerer, weil ich eine Frau bin.“ Weil niemand sie als Choreographin wollte, trainierte sie zunächst kleinere Gruppen im Umland – bis die so erfolgreich waren, dass man auch auf Fahnenschreiber aufmerksam wurde. Schließlich wurde sie dann als Trainerin der „Luftflotte“ engagiert. Weitere Engagements folgten bis ins hohe Alter. Warum mag man sich nun fragen, nahm Fahnenschreiber das auf sich? „Dafür muss man ein kölsches Mädchen sein“, sagt Fahnenschreiber. „Ich hab den Karneval schon als kleines Kind mitten in Köln miterlebt und geliebt.“ Und die harte Arbeit zahlte sich aus. „Früher gingen die Leute auf Toilette, wenn die Tanzgruppen auftraten. Aber plötzlich blieben sie sitzen und staunten.“
An diesem Abend im Januar staunen sie, als der Tanzoffizier das Mariechen in die Luft hebt, sie einen Salto macht und wieder in seinen Armen landet. Als sie auf seinen nach oben gestreckten Händen steht und das Publikum anheizt. Oder eben beim Propeller. Das Publikum, sagt Biggi Fahnenschreiber, wolle immer mehr. Höhere Würfe, schnellere Drehungen, weitere Salti. Mehr Spektakel. Mehr Akrobatik. Und das Publikum bekommt es. So, wie Biggi Fahnenschreiber und Peter Schnitzler den Tanz in den Karneval gebracht haben, so entwickelt er sich mit der Zeit weiter. Sie sorge sich nur um die Tänzerinnen, sagt die 92-Jährige. „Akrobatik muss man regelmäßig trainieren, sonst ist das Verletzungsrisiko groß.“
Für Elena Stickelmann, die ehemalige Turnerin, ist der Karnevalstanz auch Sport. Sie mag es, den Körper zur Musik zu bewegen, die Kraft, die Gelenkigkeit, die die Choreographien erfordern. Jetzt aber sind des Mariechens Beine müde. Der Abend neigt sich dem Ende zu. Die Funken um sie herum sind langsam angetrunken, Stickelmann und Gorny aber bleiben nüchtern bis zum Schlussakkord beim letzten Auftritt. Eine hübsche junge Frau unter so vielen bierseligen Männern? „Ich habe noch nie einen blöden Kommentar abbekommen“, betont sie. „Im Gegenteil: Hier kümmern sich wirklich alle um mich, nehmen mir meinen Koffer mit den Wechselklamotten und Schminkutensilien ab, bringen mir Essen und Getränke.“
Seit 9.30 sind die Roten Funken an diesem Samstag in Uniform unterwegs, zunächst stand eine Beerdigung an, seit 14.45 Uhr reiht sich ein Auftritt an den nächsten. Sechs Stück sind es insgesamt. Sechs Stück sind es heute insgesamt. Eine halbe Stunde etwa sind die Funken jeweils auf der Bühne, in der Zeit zeigen das Mariechen und ihr Tanzoffizier zwei Tänze á drei Minuten, aber natürlich sind sie auch die restlichen 24 Minuten präsent, schäkern, lachen, strahlen.
Gerade haben Elena Stickelmann und Florian Gorny eine Stunde Pause, um 21.30 geht es in den Bus zur letzten Sitzung. Und dann: Mit dem Bus zur Ulrepforte und von da aus nach Hause. Letzter Programmpunkt des Tages: Waschmaschine anstellen. „Die Uniform ist nicht wirklich atmungsaktiv“, sagt Stickelmann. Nach jedem zweiten Auftritt wechselt sie das Top, das sie unter der Uniformjacke trägt, Gorny muss sein Shirt nach jedem Auftritt wechseln. Auch die weiße Weste und die weiße Hose müssen abends noch in die Maschine. Viel Zeit zum Trocknen bleibt nicht. Am nächsten Tag geht’s um 12.00 Uhr weiter. Mariechen danz!