Weinexperte Carsten Henn im Interview„Ich schmecke sofort, ob ein Wein billig ist“

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Carsten Henn bei der Lese in seinem Weinberg an der Mosel im Herbst 2021.

Köln – Seit vielen Jahren ist Carsten Henn als Gastrokritiker für diese Zeitung tätig. Daneben hat er gleich mehrere Berufe: Bestseller-Autor, Weinkolumnist und Besitzer eines Weinbergs. Gerade ist von ihm erschienen: „Der Mann, der auf einen Hügel stieg und von einem Weinberg wieder runterkam“. Im Interview spricht er über seine Faszination für Wein, den besten Riesling und was er am eigenen Weinberg alles falsch gemacht hat. Herr Henn, man liest oft über Sie, Sie seien Winzer und besäßen ein Weingut an der Mosel.Carsten Henn: Klingt toll, stimmt aber gar nicht. Da müssen echte Winzer denken: Was erzählt der Henn denn da? Der soll mal nicht so angeben. Aber ich behaupte das selbst nie, das wird von anderen fälschlicherweise verkündet. Tatsächlich habe ich zusammen mit vier anderen Weinbegeisterten vor ein paar Jahren drei Parzellen eines Weinbergs an der Mosel gekauft und diese haben wir dann selbst bewirtschaftet. Die Trauben haben wir einem Winzer vor Ort gegeben. Wir haben also Trauben produziert.

In Ihrem neuen Buch spüren Sie dem Geheimnis sehr guten Rieslings nach, es geht aber auch um Ihr Leben und Ihre gescheiterte Winzerkarriere. Warum wollten Sie einen eigenen Weinberg?

Ich wollte nach meinem Weinbau-Studium in Australien gerne selbst Wein machen, um den Weinbau noch besser zu verstehen. Es hat aber noch Jahre gedauert, bis sich die Chance dazu ergab. Beim Weinbergskauf war ich dann schon lange als Weinjournalist aktiv. Eigentlich wollte ich an der Ahr einen Weinberg erwerben, aber die waren viel zu teuer. Dann habe ich an den Mittelrhein gedacht, weil die Region noch halbwegs nah dran liegt an Köln. Aber dann erreichte mich ein Hilferuf vom Winzer Uli Stein von der Terrassen-Mosel, der uns Parzellen in der Lage „Himmelreich” vermittelte.

Zur Person

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Casten Henn ist Restaurantkritiker für den Kölner Stadt-Anzeiger.

Carsten Henn ist Gastrokritiker, Weinjournalist und Bestseller-Autor. Mit seinen Romanen „Der Buchspazierer“ und „Der Geschichtenbäcker“ ist er seit Monaten in der Spiegel-Bestseller-Liste. Sein neues Werk „Der Mann, der auf einen Hügel stieg und von einem Weinberg wieder runterkam“, ein erzählendes Sachbuch, ist bei DuMont erschienen. Er lebt mit seiner Familie und zwei Katzen in Hürth.

Warum Notruf?

Immer mehr Winzer in den steilen Lagen hören auf, weil die Arbeit dort sehr teuer ist, sie für den Wein aber nicht mehr Geld bekommen. Dadurch fallen Flächen brach. Bei zu vielen brachliegenden Flächen nisten sich Vögel ein und fressen die Trauben der umliegenden Weinberge ab. Außerdem macht es bei zu viel Patchwork irgendwann keinen Sinn mehr, mit dem Hubschrauber zu spritzen. Mit der Hand spritzen ist aber noch viel teurer.

Welche Fehler haben Sie beim Kauf gemacht?

Eigentlich alle. Wir hätten uns die Lagen im Sommer anschauen sollen, nicht im Winter. Nur dann lässt sich beurteilen, ob die Reben bei wenig Regen Trockenstress haben oder nicht. Wir haben am Ende die herausforderndsten Parzellen ausgewählt, zum Teil mit eingestürzten Trockenmauern. Für eine mussten wir durch den Wald kraxeln, um dorthin zu gelangen. Außerdem wohnten wir alle viel zu weit weg von unseren Reben und waren entsprechend viel zu selten da.

Mit welchen Folgen?

Alle Arbeiten, die im Weinberg anstehen, haben wir nicht zum richtigen Zeitpunkt gemacht. Das addiert sich im Jahr zu diversen Fehlern. In einem Jahr wollten wir die Trauben unbedingt noch länger hängen lassen, um noch mehr Volumen in den Wein zu bekommen. Leider haben alle Winzer um uns herum ihre Trauben wegen des Wetters vorher reingeholt. Die Vögel haben sich dann auf unsere Trauben gestürzt, bis keine mehr da waren. Dann hatten wir Mehltau. Dann hatten wir Wildschweine. Einmal wurde schlicht vergessen, zu spritzen. Und wir haben viele Arbeiten nicht gut gemacht, bei der Lese teilweise zu viel weggeschnitten.

Irgendwann aber hatten Sie Ihren ersten Wein zum Probieren vor sich.

Das war ein ganz besonderer Moment. Gleichzeitig war ich ängstlich. Wenn ich scheitere, würden alle Winzer sagen können: Guck mal, der Henn bewertet uns so streng und kriegt selbst keinen gescheiten Wein hin.

Ist er gescheit geworden?

Er ist süffig, ich bin zufrieden. Aber es ist kein großer Wein, der die Weinwelt aus den Angeln hebt.

Wie hat Ihre Faszination für Wein angefangen?

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Henn in seinem Weinberg an der Mosel, im Hintergrund sein guter Freund, der Schauspieler Hagen Range.

In der elften Stufe hat unser Chemielehrer die alkoholische Gärung durchgenommen. Wir sind mit dem Kurs an die Ahr gefahren und einen Teil vom Rotweinwanderweg gegangen. Danach gab es eine Probe in der Staatlichen Weinbaudomäne Marienthal, die es heute in dieser Form nicht mehr gibt. Meine Mitschüler fanden es toll, schulisch abgesegnet Wein trinken zu können und haben sich den richtig hinter die Binde gekippt. Ich habe in die Gläser reingerochen und war fasziniert. Wie kommt die Vanille da hinein oder der Geruch nach Leder? In dem Moment war ich dem Wein verfallen.

Sie haben erst Völkerkunde und dann in Australien Weinbau studiert. Unterscheidet sich der Weinbau dort sehr vom deutschen?

Damals war es eine komplett andere Weinwelt. Die Australier hatten einen sehr industriellen Ansatz mit riesengroßen Mengen. Es ging dort nicht um einzelne Lagen wie in Deutschland, wo sich die Winzer fragen, wie sie die Persönlichkeit ihres Weinbergs kongenial auf die Flasche bringen können. In Australien fragte man sich: Was will der Kunde? Und wie bekommen wir dieses Produkt aus unserem Weinberg heraus? Die Australier haben sich zudem viele Dinge getraut, zum Beispiel einfach Tanninpulver in ihre Spitzenkreszenzen reingegeben. So etwas gibt man in Deutschland höchstens in günstige Tropfen, aber nie in Spitzenweine.

Haben die Australier eher für die Discounterwelt produziert?

Definitiv. Wobei diese billige Massenware sehr ordentlich gemacht war, nicht so fehlerhaft wie die billigen deutschen Weine, die wir damals in unseren Supermarktregalen hatten. Das waren echte Mängelweine. Bis heute würde ich mich für einen australischen Wein entscheiden, wenn ich zwischen drei billigen Weinen aus Italien, Frankreich oder Australien wählen müsste.

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In Ihrem Buch spüren Sie dem Geheimnis des großen trockenen Rieslings nach, der absoluten Spitze in der Riesling-Welt. Früher zählten süße Rieslinge zu den teuersten Weinen der Welt. Wann hat sich das geändert?

So richtig erst seit dreißig Jahren. Zuerst hat die Wachau in Österreich mit der Umstellung angefangen und sehr hohe Noten von Weinkritikern für ihre trockenen Rieslinge erhalten. Dann sind die deutschen Winzer nachgezogen. Die ersten großen, trockenen Rieslinge sind vermutlich in den 1990er Jahren entstanden. Es gab davor nur vereinzelt Winzer, die das angegangen sind, absolute Pioniere. Man dachte zuvor immer, der Riesling bräuchte Restzucker, um seine stramme Säure auszubalancieren.

Der Riesling gilt als deutscher König unter den Weinen. Warum?

Zum einen ist es die am meisten angebaute weiße Rebsorte in Deutschland. Zum anderen ist sie wie keine andere fähig, ihre Herkunft zu spiegeln, den Boden, das Klima, ihr Terroir, wobei in diesem französischen Begriff auch der Winzer mitgemeint ist, also die Kultur des Weinmachens. Das alles kann man in einem Riesling herausschmecken. Außerdem kann man mit Riesling die ganze Palette spielen, von trocken bis edelsüß, von Schoppenwein über komplexe Spitzentropfen, und auch Sekt. Das ist selten in der Welt des Weins.

Sie haben für Ihr Buch deutsche Topwinzer besucht und waren für einen Tag Praktikant. Welcher Tag ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Ich war bei dem Winzer, der den teuersten trockenen Riesling Deutschlands erzeugt, Klaus Peter Keller in Flörsheim-Dalsheim. Da stand ich dann vor einem seiner Rebstöcke und dachte: Okay, wenn ich mich hier verschneide, sind 300 Euro futsch. Das macht schon nervös. Sehr in Erinnerung geblieben ist mir aber auch ein Winzer, der biodynamischen Weinbau betreibt, eine Art Homöopathie des Weinbaus, basierend auf den Lehren von Rudolf Steiner, der auch die Waldorfschulen begründet hat. Da geht es unter anderem auch um Mondphasen. Mittlerweile betreiben sehr viele Spitzenbetriebe biodynamischen Weinbau, auch weil sie glauben, dass diese Methode bessere Weine ergibt.

Ein Kapitel haben Sie dem Thema Naturwein gewidmet. Was unterscheidet Naturwein von dem Wein, den die meisten trinken?

Naturwein ist ein fast schon religiöses Thema. Wenn ich als Winzer ganz streng bin beim Naturwein, darf ich nichts wegnehmen und nichts dazugeben. Die Weine bleiben also komplett ungefiltert, ihnen wird auch kein Schwefel zugesetzt, um die Oxidation zu verringern. Zuchthefe ist natürlich ebenfalls verpönt. Das schafft einen ganz anderen Wein.

Wie viel dürfen andere Winzer mit ihrem Wein machen?

Da gibt es schon eine große Trickkiste, über die Winzer aber nicht so gerne reden. Es gibt viele Mittelchen und Präparate, um dem Wein einen bestimmten Geschmack zu verleihen. Oder gezüchtete Hefestämme, um bestimmte Aromen herzustellen. Wer als Winzer möchte, dass sein Riesling nach Mango und Grapefruit riecht, kann das bestellen. Das hat dann aber nichts mehr damit zu tun, was dieser Wein von sich aus vom Weinberg mitbringen würde. Man kaschiert den wirklichen Ausdruck. Man nimmt nicht, was die Natur hergibt, sondern was technisch möglich ist. Je besser die Winzer, desto weniger benutzen sie davon. Die Topwinzerinnen und -winzer, die ich für das Buch besucht habe, sind schon sehr nah dran am Naturwein. Aber Schwefel geben fast alle noch dazu und filtrieren tun sie auch.

Schmecken Sie als Profi einen billigen Wein sofort?

Ja, das kann man erkennen. Allerdings: Je kälter Wein serviert wird, umso weniger schmeckt man. Erst, wenn er wärmer wird, riecht man bei einem hingefriemelten Riesling zum Beispiel die ganzen Aromen, die in einem authentischen nicht vorkommen. Ich will da aber nicht dogmatisch sein. Auch diese Weine haben ihren Markt und ihre Preispolitik. Das ist letztlich Industrie, so wie Coca-Cola. Aber wer wirklich etwas vom Boden und der Herkunft schmecken will, der sollte so etwas nicht trinken. Ich persönlich will zum Beispiel auch nicht, dass ein Wein in jedem Jahrgang gleich schmeckt. Ich will, dass der Wein ein Zeugnis seines Jahrgangs ist.

Ich war vor einigen Jahren auf einer Naturwein-Messe. Vieles von dem, was ich probiert habe, fand ich ungenießbar.

In den ersten Jahren waren die meisten Naturweine fehlerhaft. Viele Naturwinzer haben ihr Handwerk gar nicht beherrscht, aber behauptet, das muss so schmecken, weil es halt Natur ist. Die Wahrheit ist: wer Naturwein macht, muss sehr ordentlich im Weinberg arbeiten, weil sich nichts mehr nachträglich korrigieren lässt. Es dürfen nur gesunde Trauben vergoren werden, sonst wird das ganz krautiges Zeug, das teilweise ekelhaft ist und stinkt. Der durch schlechte Gewächse beschädigte Ruf der Naturweine ist schade, weil es mittlerweile großartige Exemplare gibt. Ich habe für mein Buch eine Kölner Weinhändlerin besucht, die mit ihrem Geschäft „La Vincaillerie“ eine Pionierin für das Thema ist. Wer dort eine Probe macht, merkt, was für eine Spannbreite es bei Naturweinen gibt.

Wie finde ich einen guten Riesling?

Das kommt drauf an. Das Besondere am Riesling ist ja seine große Spannbreite. Die einen mögen Riesling vom Schieferboden, die anderen vom Kalk- oder Lehmboden. Es gibt sehr komplexe Rieslinge, sehr fruchtige, sehr würzige, sehr säurestarke, sehr cremige. Der ideale Weg ist: probieren. Und die Winzer vor Ort besuchen, die Gegend kennenlernen. Man trinkt ja nicht nur ein Getränk, sondern die ganze Landschaft mit. Das macht die Faszination aus.

Sie haben als Weinjournalist etliche Weine probiert, die mehrere Tausend Euro wert sind. Wie fühlt sich das an?

Man ist vorher immer ein bisschen nervös, weil die Erwartungshaltung wahnsinnig groß ist. Der Preis suggeriert eine Qualität, die viel höher ist als bei Weinen, die 100 oder 500 Euro kosten. Es gibt aber keinen Wein, der 50-mal so gut ist wie ein Wein für hundert Euro, was ja auch schon sehr viel Geld ist. Ab einem gewissen Niveau sind die Preise einfach abgekoppelt von dem Geschmack.

Aber es muss doch einen Unterschied im Geschmack geben.

Ganz große Weine sind nicht mächtiger und komplexer als günstigere, sondern komplexer und feiner. Als ich zum ersten Mal einen solchen Wein getrunken habe, dachte ich: Wo ist die Geschmacksexplosion, wo ist das Feuerwerk im Mund? Der ist ja total dünn. Jahre später erst habe ich verstanden, was für eine Kunst es ist, einen derart feinen Wein so komplex hinzubekommen.

Wie viele Weinflaschen haben Sie eigentlich in Ihrem Weinkeller?

Mehr als 10.000, schätze ich.

Ist der versichert?

Aus diesem Weinkeller kann man nichts sinnvoll klauen. Selbst ich weiß nicht, wo die teuren Flaschen liegen, weil da nur Chaos herrscht. Jeder Dieb wäre hoffnungslos verloren. Insofern bin ich sehr entspannt.

Die Flutkatastrophe jährt sich. Sie stehen in Kontakt mit vielen Winzerinnen und Winzern an der Ahr. Welche Geschichte hat Sie besonders berührt?

Die Geschichte der Schwestern des Weinguts Meyer-Näkel in Dernau. Als die Flut kam, haben sie noch versucht, ihr Weingut zu sichern. Dann stieg das Wasser immer schneller. Sie kamen nicht mehr raus und mussten sich auf einen Baum retten, wo sie eine Nacht lang ausharrten, ohne zu wissen, ob sie überleben werden. Später stellte sich heraus, dass dieser rettende Baum von ihrem Großvater gepflanzt wurde.

Was ist Ihnen noch nahegegangen?

Zu sehen, wie viele versuchen, inmitten dieser Zerstörungen wieder alles aufzubauen und die Hoffnung nicht zu verlieren. Es hat mich fasziniert zu sehen, wie viele Menschen bereit waren, ins Ahrtal zu fahren, um zu helfen. Das gibt einem in dieser zynischen Welt den Glauben an die Menschheit zurück. Leider gab es aber auch Plünderer.

Haben einige Winzer aufgegeben?

Ja. Vor allem Weingüter im Nebenbetrieb, deren Besitzer vielleicht schon vorher überlegt haben, ob es überhaupt noch Sinn macht, weiterzumachen. Die großen Betriebe sind alle geblieben.

Wie ist die Ernte an der Ahr im vergangenen Jahr ausgefallen?

Von den Flachlagen sind etliche richtig zerstört worden. Die Steillagen sind zwar nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, aber die Winzer mussten nach der Flut erstmal gucken, dass sie ein Dach über den Kopf haben und ihre Fässer retten. Es musste zudem unglaublich viel Schutt und Schlamm weggeräumt werden. Dadurch konnten bei manchen Betrieben wichtige Arbeiten im Weinberg nicht rechtzeitig erledigt werden. Ich habe einen Tag bei der Lese im Ahrtal geholfen. Ein Trauerspiel. Da waren so viele Trauben schlecht, dass man von einem Rebstock höchstens 30 Beeren verwenden konnte. Die Winzer an der Ahr sind noch lange nicht über den Berg.

Wie kann man die Winzer unterstützen?

Ganz wichtig ist es jetzt, dass möglichst viele ins Tal fahren. Man sollte keine Angst davor haben, als Sinnflut-Tourist betrachtet zu werden. Niemand sollte sich schämen, weil er gucken will, wie groß die Flutschäden noch sind. Das ist den Winzern völlig egal. Die freuen sich über jeden, der ins Ahrtal kommt. Das ist und bleibt ein Touristengebiet, in dem man jetzt auch wieder super essen gehen und Wein trinken kann.

Das Gespräch führte Sarah Brasack 

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