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Ukraine setzt ATACMS einHöchste Gefahr für Russlands „Alligatoren“

Lesezeit 5 Minuten
Eine Artillerie-Kurzstreckenrakete vom Typ ATACMS wird abgefeuert.

Eine ATACMS beim Abfeuern - hier 2017 in Südkorea.

Die Ukraine hat von den USA Kurzstreckenraketen mit höherer Reichweite erhalten – und eingesetzt. Was bewirken die ATACMS-Flugkörper?

Anatoli Antonow ist ungehalten. Es sei ein „grober Fehler“ der USA gewesen, dem „Kiewer Regime“ Raketen mit großer Reichweite zu liefern, erklärt der russische Botschafter in Washington: Die USA trieben „es weiter zu einem direkten Zusammenstoß der Nato mit Russland“. Im Übrigen hätten die Raketen aber keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf.

Antonow reagierte damit auf einen spektakulären Raketenschlag der Ukraine: Auf dem Militärflugplatz im okkupierten Berdjansk hatte die ukrainische Armee am Dienstag mehrere russische Hubschrauber zerstört. Präsident Wolodymyr Selenskyj dankte den USA im Anschluss für die ATACMS-Raketen – und auch das Weiße Haus bestätigte die Lieferung, ohne auf den konkreten Einsatz einzugehen. Was bewirken diese Raketen?

Welche Raketen hat Kiew erhalten?

ATACMS bedeutet „Army Tactical Missile System“, also taktisches Armee-Raketensystem. Es handelt sich um Kurzstreckenwaffen mit einer Reichweite von 165 bis 300 Kilometern, entwickelt seit den 1980er Jahren. Heute werden sie nicht mehr hergestellt. Von russischen Quellen präsentierte Raketenfragmente, aber auch die Informationen über die Schäden in Berdjansk sprechen dafür, dass die Ukraine das früheste Modell dieser Raketen, „Block 1“ oder „M39“, erhalten hatte. Es handelt sich also nicht um eine „gedrosselte“ Version, wie die „Washington Post“ schreibt, sondern schlicht um die älteste.

Die „Block 1“-Version hat eine Reichweite von 165 Kilometern. Sie besitzt noch keine Satellitennavigation und ist deshalb nicht besonders präzise, sondern richtet großflächige Zerstörungen an – bedingt durch ihren Gefechtskopf mit 950 kleinen Sprengsätzen. Viele Staaten haben solche „Clustermunition“ vertraglich geächtet, die USA zählen aber ebenso wenig dazu wie Russland und die Ukraine. Die ATACMS-Raketen können von den Himars- und M270-Raketenwerfern verschossen werden, die die Ukraine ohnehin im Einsatz hat. Ihre Reichweite und Sprengkraft stellen aber die bisher verschossene Himars-Munition weit in den Schatten.

Welche Auswirkungen hatte der Raketenschlag?

Die Ukraine hat in Luhansk und Berdjansk angegriffen, wobei unklar ist, welche Waffen in Luhansk verwendet wurden. Kiew will bei den Angriffen unter anderem neun Hubschrauber, eine Startbasis für Luftabwehrraketen und Munition zerstört haben. Unabhängig belegen lassen sich bisher nur schwere Schäden in Berdjansk. Das Nasa-Feuermeldesystem Firms bestätigt einen großflächigen Brand auf dem Flugfeld. Auch der kremltreue Militärblogger Rybar berichtet von beschädigten Hubschraubern und behauptet, Russland habe drei Raketen abgefangen, während die übrigen ihr Ziel erreicht hätten.

Was bedeutet dies für den Kriegsverlauf?

Auch wenn die russischen Blogger nur noch sehr gezügelt Kritik üben, machen Rybar und sein Kollege Fighterbomber deutlich, wie sehr die russische Militärführung hier wieder versagt hat. Dass die Ukraine ATACMS-Raketen erhalten würde, war seit Ende September klar. Und speziell die Versionen mit Submunition wie „Block 1“ sind zur Bekämpfung von Flächenzielen konzipiert – wie Flugfeldern mit geparkten Maschinen. Dennoch standen die Hubschrauber in Berdjansk offenbar wie auf dem Präsentierteller.

Das Institute for the Study of War (ISW) erkennt hier ein typisches Verhaltensmuster der russischen Armeeführung: Schon als die Ukraine ihre Himars-Systeme erhielt, gab es Angriffe mit verheerenden Folgen (etwa auf den Flugplatz Tschornobajiwka oder auf diverse Munitionsdepots), bevor die Russen einen Lerneffekt erlebten. Das ISW zweifelt nicht daran, dass sie sich auch diesmal der neuen Lage anpassen.

Allerdings hätte das einen Preis: In Berdjansk waren KA-52-Kampfhubschrauber stationiert, die gefürchteten „Alligatoren“, mit denen Russland zu Beginn der ukrainischen Gegenoffensive mehrere ukrainische Panzer beschädigen oder zerstören konnte. Wenn Russland diese Hubschrauber jetzt aus der ATACMS-Gefahrenzone bringen muss, werden der Anflug länger und die Einsatzdauer an der Front kürzer. Ohnehin sind „Alligatoren“ knapp: Nach britischer Einschätzung hatte Russland zu Kriegsbeginn 90 in Betrieb. Der unabhängige Blog „Oryx“ dokumentiert bisher 44 Verluste von Hubschraubern dieses Typs (der Schlag von Berdjansk ist noch nicht ausgewertet).

Kann ATACMS den Taurus ersetzen?

Während die USA nach langem Zögern „eine kleine Zahl“ (so die Nachrichtenagentur AP) der ATACMS-Raketen freigegeben hat, wartet die Ukraine vergeblich auf ein Ja Deutschlands zur Lieferung von „Taurus“-Marschflugkörpern. Die sind allerdings wesentlich moderner als die ATACMS, sie haben eine deutliche höhere Reichweite (bis zu 500 Kilometer) und dienen anderen Zwecken. Zumindest „Block 1“ und auch neuere ATACMS-Modelle mit Streumunition eignen sich ja nicht wie der Taurus zum Einsatz gegen punktförmige Ziele – beispielsweise zur Zerstörung von Brücken.

Nach einer nicht bestätigten Behauptung von Blogger Rybar soll die Ukraine neben ATACMS erstmals auch GLSDB-Geschosse eingesetzt haben. Das ist ein von Boeing und Saab entwickelter Zwitter aus Rakete und Gleitbombe (Ground Launched Small Diameter Bomb, also bodengestützte Bombe mit kleinem Durchmesser), der ebenfalls von Himars- und M270-Werfern verschossen wird. Dass die Ukraine grundsätzlich GLSDB erhalten soll, ist zwar klar, und diese Waffe wirkt denn auch hochpräzise gegen Punktziele. Sie hat aber eine viel geringere Sprengkraft als die Himars-Raketen, die die Ukraine 2022 auf die Antoniwka-Brücke nahe dem damals noch russisch besetzten Cherson abgefeuert hat. Und auch diese Raketen hatten die Brücke zwar schwer beschädigt, aber nicht zum Einsturz gebracht – das erledigten erst die Russen beim Abzug.

Wie suchen die Kriegsgegner die Entscheidung?

Fazit: Die ATACMS-Raketen reduzieren die Bedrohung durch russische Kampfhubschrauber, erleichtern damit die ukrainische Bodenoffensive und befördern die Abnutzung des russischen Militärapparats. Diese Erosion ist wichtiger als marginale Frontverschiebungen – zuletzt durch die extrem verlustreichen russischen Vorstöße bei Awdijiwka nahe Donezk. Neben russischen Materialverlusten wäre aber die Störung der russischen Kriegslogistik von entscheidender Bedeutung. Die intensiven Kämpfe im Bezirk Saporischschja sind zum Beispiel vor allem durch das ukrainische Ziel zu erklären, zentrale Bahn- und Straßenverbindungen für die Besatzer unbrauchbar zu machen. Russland wiederum baut an einer Ausweich-Bahnlinie in der Südukraine. Und nach wie vor sind die zur Krim führenden Brücken, vor allem die Brücke von Kertsch, von höchster strategischer Bedeutung

Um sie zu zerstören, würde die Ukraine andere Waffen brauchen. Dafür ist nicht nur die Reichweite von ATACMS „Block 1“ zu kurz, sondern auch der Gefechtskopf ungeeignet. Dagegen ist der deutsche Taurus für solche Einsätze entwickelt. Und möglicherweise hält Bundeskanzler Olaf Scholz, der sich ja nur verschlüsselt zum Thema äußert, genau dieses Szenario für so riskant, dass er die Lieferung ablehnt.