Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Interview

Viel Bürokratie, wenig Digitalisierung
„Die Prüfungen in der Pflege nehmen überhand“

Lesezeit 5 Minuten
Eine Pflegekraft dokumentiert ihre Arbeit auf einem Tablet-Computer im DRK-Pflegezentrum Solferino.

Eine Pflegekraft dokumentiert ihre Arbeit auf einem Tablet-Computer im DRK-Pflegezentrum Solferino.

Die strenge Bürokratie in Pflegeeinrichtungen erschwert Digitalisierung und bindet Ressourcen. Anlassbezogene Prüfungen wären effizienter, meint Steffen Hehner, Chef einer Pflegeheim-Gruppe. Wir haben mit ihm gesprochen.

Bürokratie in der Pflege: Sie kostet den Beitragszahler Millionen Euro und Pflegekräfte viel Zeit. Steffen Hehner ist Vorsitzender der Geschäftsführung bei der Alloheim-Gruppe mit mehr als 300 Pflegeheimen. Im Interview mit Tim Prahle erklärt er, was ihn an der Bürokratie besonders stört.

Herr Hehner, Bürokratie gilt auch in der Pflege als großes Ärgernis. Was stört Sie an der strengen Regulierung denn so?

Ich finde es nicht problematisch, dass Pflegeheime streng geprüft werden und man genau hinschaut. Wir arbeiten mit öffentlichen Geldern, wir betreuen besonders schutzbedürftige Gruppen. Ältere, Kranke, Pflegebedürftige. Aber die Prüfungen nehmen überhand. Wir haben 15 Instanzen, die regelmäßig in ein Pflegeheim kommen: Berufsgenossenschaft, Medizinischer Dienst, Heimaufsicht und so weiter. Diese Prüfungen kosten immer Zeit, die dann in der Pflege fehlt. Und sie kosten die Pflege – und damit auch den Beitragszahler – Geld. Wenn ich jeweils zehn Prüftage pro Jahr für rund 10.000 stationäre Pflegeeinrichtungen deutschlandweit habe, die dann noch ein bis zwei Tage vorbereitet und nachbearbeitet werden müssen, komme ich schnell auf einen zweistelligen Millionenbetrag, die der ganze Aufwand das Pflegesystem kostet.

Würden Mängel, die es auch in Einrichtungen Ihrer Gruppe gab, ohne diese Prüfungen ans Licht kommen?

Anlassbezogen zu prüfen, ist ja wichtig. Aber auch in den Regelprüfungen geht es immer nur um Defizite und Mängel anstatt um Unterstützung, gerade auch für die kleineren Einrichtungen. Das ist genau diese Misstrauenskultur, die uns in der Pflege so zu schaffen macht. In den meisten Fällen sind die Prüfungen ja ohne Befund. In Baden-Württemberg sollen die Kontrollen künftig stärker anlassbezogen stattfinden. Wo nie etwas war, werden auch mal Kontrollen ausgesetzt. Das halte ich für den richtigen Weg.

Würde der Schutz für Bewohner damit nicht abnehmen, wie Kritiker befürchten?

Bei Mängeln können und sollen Kontrollen und Prüfungen doch weiter stattfinden. Wir mussten ja auch schon nachbessern. Aber aktuell geht es zulasten aller. Und wir haben ganz viel Dokumentation. In unseren Pflegeheimen läuft alles elektronisch. Aber können wir die Unterlagen per E-Mail senden?

Können Sie?

Nein! Es wird alles ausgedruckt und fein säuberlich im Ordner abgeheftet. Anders geht es nicht. Wir allein drucken jedes Jahr 60 Millionen Seiten überwiegend für Andere aus! Dabei wollen wir als Unternehmen eigentlich nachhaltiger werden.

Frustriert die Dokumentation selbst auch die Mitarbeiter, die sich in der Zeit nicht um Pflegebedürftige kümmern können?

Für mich gehört eine saubere Dokumentation dazu. Sie hat ja auch einen Sinn, damit gleich alle Kollegen wissen, wie es den Heimbewohnern geht, was sie brauchen und welche Vorfälle es gab. Das ist elektronisch, das passt. Wenn dann die Prüfer kommen und 150 Seiten pro Patient ausgedruckt haben wollen, treibt das jedoch alle in den Wahnsinn. Schlimmstenfalls wird dann noch kritisiert, dass wir nicht aufgeschrieben haben, welches Shampoo benutzt wurde.

Bleibt die fehlende Digitalisierung eines der größten Probleme?

Im Krankenhaus läuft bereits alles elektronisch. Auch die Abrechnungen kommen elektronisch bei den Krankenkassen an. Doch in der Pflege muss es offenbar Papier sein. Wir schicken Rechnungen an Pflegebedürftige, Sozialämter und Versicherungen. Alles per Post. Aber auch innerhalb des Pflegeheims könnten wir mittlerweile viel mehr Sachen digital lösen, wenn wir nur dürften.

Zum Beispiel?

Etwa 70 Prozent der Pflegebedürftigen sind inkontinent. Mit Feuchtigkeitssensoren in den Matratzen könnten Pflegekräfte viel schneller und gezielter Probleme lösen. Das spart auch richtig Personal ein, was in Zeiten der Personalknappheit wichtig wäre. Aber solche Sensoren werden nicht finanziert. Und selbst wenn der Betreiber sie selbst finanziert und das Problem technologisch lösen möchte, darf ich das Personal trotzdem nicht reduzieren, weil es gesetzlich vorgegeben ist.

Weil die Beträge immer höher werden, rutschen Pflegebedürftige zunehmend in die Sozialhilfe, was ebenfalls Bürokratie nach sich zieht.

Das ist für die Branche ein riesiger Insolvenzrisiko-Faktor. Ob privat, kirchlich oder frei-gemeinnützig. Zwischen einem Antrag auf Sozialhilfe und einem Bescheid vergehen je nach Kommune drei bis neun Monate. Solange sehen die Betreiber kein Geld und selbstredend wird der Bewohner dann auch nicht auf die Straße gesetzt. Nicht selten versterben Bewohner, während sie auf den Bescheid warten, und für die Sozialämter ist der Fall erledigt. Wir sind ein großer Betreiber, haben extra deswegen ein gerichtliches Forderungsmanagement eingerichtet. Aber was sollen kleinere Anbieter machen?

Wie viele Bewohner sind denn wegen der Heimkosten mittlerweile auf Sozialhilfe angewiesen?

Das ist regional ganz unterschiedlich. Aber man kann davon ausgehen, dass insgesamt die Hälfte aller Bewohner aktuell schon Sozialhilfe bekommt oder gerade im Antragsprozess ist.

Warum dauert der Prozess denn so lange?

Da werden Unterlagen gefordert, die manchmal nicht mehr vorhanden sind, teilweise kümmern sich rechtliche Betreuer um die Anträge. Sozialhilfe für seinen Heimaufenthalt zu bekommen, ist unfassbar kompliziert.

Ebenfalls kompliziert soll es sein, Medikamente zu bekommen. Wieso?

Weil wir jede Medikamentenverordnung ein Rezept brauchen. Wir haben bei Alloheim Mitarbeiter, die nichts anderes machen, als Rezepte zu besorgen. Wenn wir Medikamente nicht geben, weil wir kein Rezept haben, sind wir in der Haftung.

Wieso erleichtert das E-Rezept das ganze nicht?

Weil das nicht für Einrichtungen konzipiert ist, sondern für denjenigen, für den das Medikament bestimmt ist. Und die meisten Bewohner nutzen die Möglichkeit nicht oder können es nicht mehr. Das heißt, Fachkräfte holen täglich erst Rezepte und dann Medikamente. Nur bei unseren Einrichtungen bekommen die Bewohner täglich 280.000 unterschiedliche Medikamente. Und es müssen Fachkräfte sein, weil ihnen die Medikamentenvorhaltung obliegt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Pflegehilfskraft genauso gut zum Arzt und zur Apotheke fahren könnte. Aber sie darf es nicht.

Das alles klingt sehr düster. Union und SPD wollen womöglich ein eigenes Bürokratieentlastungsgesetz für die Pflege aufsetzen, jede Vorschrift soll auf den Prüfstand. Ist das nichts?

In der letzten Legislatur ist einiges an Gesetzen entwickelt worden, aber zu wenig wurde umgesetzt. Die gesamte Pflege schaut jetzt nach Berlin und erwartet, dass die Vorhaben, die schon in der Schublade liegen, schnell verabschiedet werden. Beim Thema Bürokratie können wir aus der Praxis lebhaft schildern, wo man etwas abbauen könnte. Wenn man das jetzt gemeinsam angeht, sieht es auch weniger düster aus.