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Interview mit Virologe„Wer aus seinen Fehlern nicht lernen will, wird sie wiederholen“

Lesezeit 5 Minuten
ARCHIV - 23.02.2022, Niedersachsen, Bad Zwischenahn: Stühle stehen nach Schulschluss auf den Tischen in einem Unterrichtsraum einer Grundschule. Während der Corona-Pandemie blieben die Klassenräume oft leer.

Schulschließungen waren eine der Corona-Maßnahmen. Aber waren sie auch verhältnismäßig?

Klaus Stöhr warnt davor, nach der Pandemie zur Tagesordnung überzugehen. Der Virologe fordert eine Analyse der Maßnahmen.

Der Virologe Klaus Stöhr findet, dass eine umfassende Aufarbeitung der Corona-Politik dringend notwendig ist – schließlich habe der Staat umgerechnet 5300 Euro pro Kopf dafür ausgegeben. Für die Verweigerungshaltung der Politik hat er kein Verständnis, wie er im Interview mit Rena Lehmann sagt. Hat er recht?

Herr Stöhr, das Coronavirus hat für viele seinen Schrecken verloren. Wirkt die Pandemie trotzdem noch nach?

Die Pandemie wirkt auf vielen Ebenen noch nach. Und wer glaubt, dass die Menschheit da stünde, wo sie heute steht, ohne aus ihren Fehlern zu lernen, der liegt daneben. Es gibt eine gesellschaftliche und politische Verantwortung, aus der Pandemie zu lernen. Das ist man auch dem Steuerzahler schuldig, der sich pro Kopf mit etwa 5300 Euro an den Maßnahmen beteiligt hat. Wer aus seinen Fehlern nicht lernen will, wird sie wiederholen.

Hat Deutschland es mit den Maßnahmen übertrieben?

Das ist genau der Punkt, den eine von uns geforderte Kommission einschätzen sollte. Dazu gehört sicherlich auch die Schau ins Ausland. Selbst aus dem Blickwinkel derjenigen, die entgegen der Studienlage zum Beispiel bei der Übersterblichkeit glauben, Deutschland sei „gut durch die Pandemie gekommen“, sollte man sich fragen: Warum? Was hat man richtig gemacht, und was könnte man verbessern? Wie kann man zum Beispiel Kontaktbeschränkungen besser einsetzen und auch die enormen finanziellen Mittel, die geflossen sind? Erfolg haben heißt ja nicht, keine Fehler zu machen, sondern sie nicht zu wiederholen.

Zusammen mit anderen Kollegen fordern Sie die umfassende Aufarbeitung der Corona-Pandemie. Was ist das Ziel?

Das Ziel ist es, Deutschlands Pandemieplan auf den neuesten Stand zu bringen. Es kann doch nicht sein, dass die Verantwortlichen bei der nächsten Pandemie auf den aktuellen Plan zurückgreifen müssen. Die Kosten, das nicht zu tun, werden ungleich höher sein als die Aufwendungen für eine Kommission.

Von den bekannten Experten sind nur Sie und Jonas Schmidt-Chanasit unter den Unterzeichnern. Warum machen Wissenschaftler wie Christian Drosten oder Melanie Brinkmann nicht mit?

Das ist eine gute Frage: Erfahrungsbasiertes Lernen ist nun mal die Grundlage für jedweden Fortschritt. Aber: Es ist gut, dass jetzt viele Experten aus der Praxis der Seuchenbekämpfung und des Krisenmanagements beteiligt sind.

Wer sollte eine Kommission einrichten und die Teilnehmer auswählen?

Das sollte die gesellschaftliche Institution sein, die das größte Interesse an einer evidenzbasierten und gesundheitsökonomisch, sozial und wirtschaftlich ausgeglichenen Pandemiebekämpfung hat und die bei der Krisenbewältigung die größte Verantwortung trägt: die Bundesregierung oder der Bundestag. Wichtig ist, dass sie überparteilich ist, diesmal die relevanten Fachbereiche vertritt und dass die Beteiligten sich voll darauf konzentrieren können.

Können Sie die Politik für Ihre Idee gewinnen?

Mein Eindruck ist, dass die Parteien sehnlichst hoffen, dass sie bei der nächsten Pandemie nicht in Regierungsverantwortung sind. Anders kann ich mir die Verweigerungshaltung nicht erklären. Ich habe dafür kein Verständnis. Man muss doch jetzt händeringend die richtigen Schlüsse aus der Vergangenheit ziehen, um bei der nächsten Pandemie besser vorbereitet zu sein.

Grünen-Politiker Janosch Dahmen etwa fürchtet, die Aufarbeitung könnte für politische Schuldzuweisungen genutzt werden und die Gesellschaft eher weiter spalten…

Wenn Herr Dahmen sich vor dem kritischen Diskurs fürchtet, hätte er wohl besser nicht in die Politik gehen sollen. Jede Analyse führt potenziell auch zu einer Auseinandersetzung: auch eine rückwärts gerichtete Pandemie-Aufarbeitung. Aber die ist doch auch notwendig.

An vielen Stellen wird bereits aufgearbeitet. Es gibt bereits Studien zu den Folgen der Schulschließungen…

Lernprozesse sind gut, aber das Gelernte muss natürlich in handfeste Pläne und Maßnahmen münden. Das geschieht bislang offensichtlich nicht. Dass man jetzt punktuell die eine oder andere Studie auswertet, ist gut. Aber die Ergebnisse müssen zusammengeführt werden, und damit das RKI zu beauftragen, springt sicherlich auch zu kurz. Ein Kernproblem in Deutschland war das fehlende professionelle, zentrale Pandemiemanagement. Die Politik hatte zum Beispiel keinen strukturierten Prozess der Wissensbeschaffung für die politische Entscheidungsfindung organisiert. Es wurden einzelne Wissenschaftler befragt. Es hätte aber eine Steuerungsgruppe gebraucht, die Strategieoptionen erarbeitet, die Vor- und Nachteile charakterisiert und jeweils die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Maßnahmen einschätzen kann. Auch eine punktuelle Aufarbeitung hilft nicht weiter.

Was aber hilft ein Pandemieplan, wenn das nächste Virus ganz anders ist als Corona?

Zum einen sind die Unterschiede nicht so groß: Wenn man die Erfahrungen mit den letzten Influenza-Pandemien und den Pandemieplan vom RKI von 2020 genutzt hätte, wäre einiges besser gelaufen. Die Viren werden durch Atmung übertragen, die Pandemie dauert, bis die meisten Menschen immun sind. Eine sterile Immunität gibt es nicht, meist sterben Ältere, Kinder sind weniger betroffen etc. etc. Viel Wissen hatte man eigentlich auch zu Beginn der Corona-Pandemie.

Hat das Vertrauen in die Wissenschaft Schaden in der Pandemie genommen?

Die Seuchenbekämpfung ist eigentlich das Metier von erfahrenen Fachleuten aus der Praxis und weniger von Grundlagenwissenschaftlern. Das sich auch Wissenschaftler engagiert hatten, war ja nicht erstaunlich; allerdings wäre es Aufgabe der Politik gewesen, sich ein vernünftiges Spektrum an Fachkompetenzen einzuholen und einen stabilen Prozess für die evidenzbasierte Politikberatung zu etablieren. Nicht hilfreich war jedoch, dass sich dann einige Wissenschaftler als Repräsentanten des „wissenschaftlichen Konsens“ generiert hatten. Das hat, weil in völliger Verkennung, wie verbindliche Grundlagen und Standards für Präventionsmaßnahmen erarbeitet werden, der Wissenschaft in Deutschland sicherlich geschadet.