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Interview

Juso-Chef Philipp Türmer
„Politik muss anders werden, um den Rechtsruck in der Gesellschaft zu beenden“

Lesezeit 6 Minuten
„Frische Gesichter auf relevanten Posten“ fordert Philipp Türmer für die SPD.

„Frische Gesichter auf relevanten Posten“ fordert Philipp Türmer für die SPD. 

Juso-Chef Philipp Türmer kritisiert den Koalitionsvertrag mit der Union und empfiehlt SPD-Mitgliedern ein Nein beim Mitgliederentscheid.

Noch bis zum 29. April läuft der SPD-Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag mit der Union. Sollte die Basis das Papier ablehnen, hätte Philipp Türmer (29) großen Anteil daran. Der Chef der Jusos, der SPD-Nachwuchsorganisation, empfiehlt den Genossen ein Nein. Steuert Deutschland dann schlimmstenfalls auf eine Staatskrise oder Neuwahlen zu?

Herr Türmer, der Juso-Vorstand lehnt den mit der CDU/CSU geschlossenen Koalitionsvertrag vehement ab. Was genau stört Sie?

Unsere Kritik bezieht sich im Wesentlichen auf drei Punkte. Im Bereich Arbeit und Soziales sehen wir die Abschaffung des Acht-Stunden-Tages besonders kritisch. Dann soll es bei Asyl und Migration massive Verschärfungen geben, obwohl wir bereits unter der Ampel die restriktivste Asylpolitik aller Bundesregierungen gemacht haben. Und drittens: Im Bereich Steuern und Finanzen gibt es zu viele Leerstellen, es wird nichts für eine echte Umverteilung getan. Zusätzlich stehen alle Projekte des Koalitionsvertrags unter Finanzierungsvorbehalt. In der Summe ist das zu dürftig. Da muss dringend nachgebessert werden.

Sie glauben, damit sprechen Sie der Parteibasis aus der Seele?

Ich habe den Eindruck, dass viele Genossen unsere inhaltliche Kritik teilen. Zur Skepsis hat sicher auch beigetragen, dass wichtige sozialdemokratische Projekte umgehend von führenden Unionspolitikern infrage gestellt worden sind. Dass es doch keine Erhöhung des Mindestlohns in 2026 auf 15 Euro geben werde, zum Beispiel, oder dass plötzlich von Sozialkürzungen die Rede ist, von denen nichts im Koalitionsvertrag steht. Und entgegen der Vereinbarung im Koalitionsvertrag hat Jens Spahn gesagt, man müsse quasi das Verhältnis zur AfD normalisieren. All das trägt nicht dazu bei, dass die Stimmung in der SPD besser wird.

Warum will die SPD einen Mindestlohn plötzlich gesetzlich bestimmen?

Ich finde es richtig, dass man im Zweifel den Mindestlohn auch gesetzlich festlegt, weil wir in der Vergangenheit erlebt haben, dass die Mindestlohnkommission ihrem eigentlichen Auftrag eben nicht nachkommt; beim letzten Mal hat sie gegen die Arbeitnehmervertreter alles darangesetzt, den Anstieg des Mindestlohns künstlich zu begrenzen. Wenn so etwas wieder passiert, dann muss der Gesetzgeber eingreifen.

Laut jüngsten Zahlen beschleunigt sich der Arbeitsplatzabbau infolge der Wirtschaftskrise nicht nur in Großunternehmen, sondern auch im Mittelstand. Sollte man sich da mit neuen Belastungen nicht zurückhalten?

Das gern von Konservativen und Neoliberalen erzählte Schauermärchen, wonach die Erhöhung des Mindestlohns zum Arbeitskräfteverlust im großen Stil führt, ist bislang durch keinerlei wissenschaftliche Studien bestätigt. Es gibt diesen unmittelbaren ökonomischen Zusammenhang nicht. Diese Behauptung war bei der Einführung Unsinn und ist es auch jetzt noch.

Ein weiterer Streitpunkt sind mögliche Steuererhöhungen, die SPD-Chef Lars Klingbeil nicht ausgeschlossen hat. Wen soll es härter treffen, die Besserverdienenden?

Uns geht es in erster Linie um eine faire Besteuerung von Vermögen. Deshalb gilt es, diese und extrem hohe Kapitaleinkommen in den Blick zu nehmen. Kapitaleinkommen werden im internationalen Vergleich sehr gering besteuert. Im Kernhaushalt haben wir in den nächsten vier Jahren eine Lücke von 140 Milliarden Euro. Um diese Lücke zu schließen, finde ich es naheliegend, jene höher zu besteuern, die Milliarden oder massive Millionenvermögen auf den Konten liegen haben.

Sie wissen doch genau, dass das mit der Union nicht zu machen ist....

Ich glaube, auch konservativen, christdemokratischen Kreisen fällt es immer schwerer zu erklären, warum immenser Reichtum nicht stärker für das gesamtgesellschaftliche Wohl herangezogen wird. Wenn ich versuche, mich in eine konservative Politik hineinzudenken, würde mir diese Ungleichbehandlung im Hinblick auf ganz normale Familien im Vergleich zu superreichen Vermögenden erhebliche Sorgen bereiten.

Klingt das nicht ein wenig zu sehr nach linkem Klassenkampf?

Ich mache aus Überzeugung linke Politik, weil ich glaube, dass linke Politik am besten in der Lage ist, die Alltagsprobleme der Menschen zu lösen und gleichzeitig eine Vision von einer besseren und gerechten Gesellschaft zu zeichnen. Das wünschen sich gerade jetzt viele Menschen.

Wie erklären Sie sich dann die seit Beginn der Koalitionsgespräche auf einen neuen Rekord gewachsene Zustimmung zur AfD?

Ich habe große Zweifel, ob die Leute immer explizit linke oder rechte Politikangebote wählen. Ihnen geht es häufig um Lösungen für die Alltagssorgen oder sie wollen ihrem Protest und ihrer Unzufriedenheit Ausdruck verleihen. Deshalb muss Politik jetzt anders werden, um den Rechtsruck in der Gesellschaft zu beenden. Man könnte die Umfragen auch so lesen, dass es Union und SPD noch nicht gelungen ist, ein tatsächliches Aufbruchssignal zu senden und Lösungen für jene Alltagssorgen zu präsentieren. Die demokratischen Parteien müssen Vertrauen zurückgewinnen, dafür reicht nach unserer Einschätzung der bisherige Koalitionsvertrag nicht aus. Deshalb braucht es Nachbesserungen.

Warum wenden sich die Jusos dann gegen eine schärfere Migrationspolitik und legen nicht mehr Augenmerk auf die Rente?

Rente ist ein Dauerprojekt, da gibt es tatsächlich viele weitere Reformschritte, die wir uns als Jusos sehr gut vorstellen können. Absolut überfällig ist die Einbeziehung aller Berufsgruppen in das System der gesetzlichen Rente, Beamte, Selbstständige und auch Bundestagsabgeordnete. Diese Einbeziehung aller Menschen in die gesetzliche Rente, könnte das System langfristig stabilisieren und dazu beitragen, dass auch das Rentenniveau für meine Generation gesichert wird.

Steuert Deutschland im Falle einer Ablehnung des schwarz-roten Koalitionsvertrages nicht auf eine veritable Staatskrise zu?

Ich sehe nicht, dass das Land in diesem Fall auf eine Staatskrise zusteuert. Niemand hindert Union und Sozialdemokraten daran, sich nochmal neu zu verständigen. Am Ende ist eine Koalitionsvereinbarung schließlich die Arbeitsgrundlage für vier Regierungsjahre, da sollte man auch gründlich sein und nichts überstürzen. Eine Staatskrise sehe ich da nicht.

Aber wären Neuwahlen gegenüber dem Wähler nicht glaubwürdiger?

Für Neuwahlen gibt es nicht ohne Grund hohe verfassungsrechtliche Hürden, die kann man nicht einfach so anordnen. Das Grundgesetz legt großen Wert auf Stabilität und Neuwahlen gibt es da nicht so schnell.

Zudem drohte der SPD ein noch schlechteres Ergebnis als das historische Debakel bei der Wahl im Februar. Lässt sich das Siechtum der Partei überhaupt noch aufhalten?

Unabhängig vom Ausgang des Mitgliedervotums müssen wir uns als Partei verändern. Wir haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten viel Vertrauen verloren – auch wenn wir Teil einer Bundesregierung waren, auch unabhängig davon, wer an der Spitze der Partei stand. Wir haben mit vielen verschiedenen Gesichtern verloren. Die Probleme der Sozialdemokratie gehen also tiefer.

Es reicht also nicht, beim Bundesparteitag im Juni die umstrittene Parteivorsitzende Saskia Esken auszutauschen?

Es braucht eine programmatische Neuausrichtung als Partei, die ohne Wenn und Aber die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeiterinnen vertritt. Auch wenn vielleicht die klassische Industriearbeiterschaft zurückgeht: Deutlich mehr als 50 Prozent der Gesellschaft identifizieren sich in erster Linie über ihre Arbeit, tatsächlich ist Arbeit auch heute noch ein identitätsstiftendes Element. Dieses enorme Potenzial, gilt es für die SPD auszuschöpfen. Ich glaube, uns sind die glaubhaften Visionen für eine solidarische und gerechtere Gesellschaft abhandengekommen. Das muss sich wieder ändern. Und eine Neuausrichtung der Partei wird sich auch in frischen Gesichtern auf relevanten Posten widerspiegeln müssen.

Treten Sie als Juso-Chef zurück, wenn die SPD-Basis den schwarz-roten Koalitionsvertrag ohne Nachbesserungen durchwinkt?

Es geht ja weiter, wenn der Mitgliederentscheid vorbei ist! Egal wie die Abstimmung ausgeht, wir werden uns als Nachwuchsorganisation unmittelbar und maßgeblich in den programmatischen Prozess der Neuaufstellung der SPD mit vielen Vorschlägen und Ideen einbringen. Dieses Einbringen will ich gemeinsam mit dem ganzen Verband tun. Darauf freue ich mich sehr.