Immerhin: Die Bundeswehr macht nach Einschätzung der Wehrbeauftragten Fortschritte. Die seien aber „eher punktuell“. Für den Verteidigungsminister gibt es noch viel zu tun.
Rundschau-Debatte des TagesWie krank ist der „olivgrüne Patient“?
Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, hat im zweiten Jahr der militärischen „Zeitwende“ kaum substanzielle Verbesserungen bei Personal, Material und Infrastruktur in der Bundeswehr festgestellt. Zudem steuern die deutschen Streitkräfte nach ihrer Einschätzung auf erhebliche Personalprobleme zu. Der am Dienstag in Berlin veröffentlichte Jahresbericht 2023 der SPD-Politikerin benennt die wichtigsten Baustellen für den Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD).
Personal
„Die Truppe altert und schrumpft immer weiter“, warnt Högl. Etliche Verbände hätten anhaltend große „Personalvakanzen“. Zum Stichtag 31. Dezember dienten demnach 181514 Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr, das waren 1537 weniger als im Vorjahr. Es seien aktuell mehr als 20.000 Stellen unbesetzt, eine Quote von mehr als 17 Prozent.
Weiterhin zu gering sei der Frauenanteil mit nur etwa 15 Prozent. Keine Verbesserungen gebe es auch bei der Zahl von Frauen in Führungspositionen. „Das muss besser werden“, sagte Högl bei der Vorstellung des Berichts in Berlin. Sorge mache ihr auch ein verzeichneter Anstieg bei sexuellen Übergriffen. „Es muss eine klare rote Linie geben“, forderte sie.
Insgesamt führe der Personalmangel und die Vielzahl von Auftragen zu einer enormen Arbeitsbelastung der Truppe. In dem Bericht heißt es: „Wenn es zu wenig Personal gibt, müssen immer dieselben ran.“ Högl hofft deshalb, dass noch die jetzige Ampel-Regierung ein „grobes Konzept“ für eine allgemeine Dienstpflicht hinbekommt, das dann in der nächsten Legislatur umgesetzt werden könne.
Ausrüstung
„Es mangelt an Material vom Großgerät bis hin zu Ersatzteilen. Durch die Abgabe an die Ukraine ist der Mangel noch größer geworden“, schreibt Högl. Unter den Soldaten gebe es zwar weiterhin Zustimmung für die Ukraine-Hilfe. Lücken bei Munition und Ersatzteilen ließen sich trotz schnellerer Beschaffung aber nur mittelfristig schließen. Die Bundeswehr könne nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums ihre Bündnisverpflichtungen in der Nato derzeit zwar erfüllen, müsse aber „weiterhin schwerwiegende Einschränkungen hinnehmen“. Immerhin ein Lichtblick: Die in den Vorjahren immer wieder als mangelhaft gerügte persönliche Ausrüstung für die einzelnen Soldaten sei inzwischen vorhanden – und sogar so umfangreich, dass in den Spinden kein ausreichender Platz dafür sei.
Bürokratie und Beschaffung
Högl beklagt nach wie vor überbürokratisierte Prozesse und Strukturen in der Bundeswehr. Sie schreibt, es seien aber im vergangenen Jahr „in vielen Bereichen wichtige Weichen“ gestellt worden – ohne dass die Bundeswehr damit bereits am Ziel sei. Sie verwies dabei auf eine „beispiellose Zahl“ sogenannter 25-Millionen-Vorlagen, mit denen das Verteidigungsministerium 2023 im Bundestag grünes Licht für größere Beschaffungsprojekte einholte. Das Parlament genehmigte 55 dieser Vorlagen mit einem finanziellen Gesamtvolumen von 47 Milliarden Euro für Rüstungsprojekte.
Infrastruktur
Die Lage in Kasernen und Dienststellen sei vielerorts desaströs, stellt Högl fest. „Mich erreichen Schreiben von Eltern, deren Kinder soeben den Dienst angetreten haben – in Kasernen mit maroden Stuben, verschimmelten Duschen und verstopften Toiletten.“ Der schlechte Zustand der Kasernen sei teils beschämend und dem Dienst der Soldaten unangemessen. Schon jetzt gebe es deshalb eine Verantwortung von Landesbehörden bei Bauprojekten, die entgegen den Interessen der Bundeswehr eigene Vorhaben priorisieren. Högl mahnt: „Wünschenswert wären unter anderem eine zügige Prüfung und Billigung von Vorhaben durch das Bundesministerium der Finanzen.“
Verteidigungsausgaben
Mit 58,5 Milliarden Euro insgesamt seien die für die Streitkräfte bereitgestellten Gelder 2023 gegenüber den Vorjahren deutlich gestiegen. Zwar sei der Verteidigungsetat selbst mit 50,1 Milliarden Euro gegenüber 50,4 Milliarden Euro im Jahr 2022 etwas geringer ausgefallen. Aus dem 100 Milliarden Euro umfassenden Sondervermögen für die Bundeswehr standen aber zusätzlich rund 8,4 Milliarden Euro zur Verfügung. Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato sei damit 2023 noch nicht erreicht, „auch wenn sich dies mit dem Haushalt 2024 voraussichtlich ändern wird“. Erkennbar sei, dass nach Ausschöpfen des Sondervermögens Ende 2027 „eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsetats in einer Größenordnung von mehreren Milliarden Euro notwendig sein wird“.
Extremismus
Rechtsradikale Vorfälle machten in den vergangenen Jahren immer wieder Schlagzeilen und lösten auch Ermittlungen aus. „Erfreulicherweise ist für das abgelaufene Berichtsjahr erneut festzustellen, dass Extremismus in der Bundeswehr nur eine kleine Minderheit der Soldatinnen und Soldaten betrifft. Im Jahr 2023 übermittelte das Verteidigungsministerium der Wehrbeauftragten 204 meldepflichtige Ereignisse mit Bezügen zum Extremismus“, schreibt Högl nun. Bei der Sicherheitsüberprüfung durch den Militärischen Abschirmdienst kam es im Berichtsjahr gegenüber dem Vorjahr aber „zu längeren Bearbeitungszeiten“.
Sicherheitslage
Die Wehrbeauftragte verweist darauf, dass im vergangenen Jahr im westafrikanischen Mali der zweite große Auslandseinsatz der Bundeswehr nach dem in Afghanistan beendet worden sei. Und sie schreibt: „Die Bilanz fällt ähnlich ernüchternd aus.“ Mit der Refokussierung auf Landes- und Bündnisverteidigung würden solche Einsätze nun aber unwahrscheinlicher. Nie seit dem Ende des Kalten Krieges sei die äußere Sicherheit Deutschlands und Europas so sehr bedroht gewesen, schreibt Högl zur aktuellen Lage und nennt den russischen Angriff auf die Ukraine, die Kämpfe um Berg-Karabach, im Nahen Osten sowie Spannungen zwischen China und Taiwan. Ihre Bewertung der Konflikte: „Sie zeigen vor allem, dass militärische Macht zunehmend an Bedeutung gewinnt.“ (dpa)