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Rundschau-Debatte des TagesIst Abschieben nach Syrien und Afghanistan vertretbar?

Lesezeit 4 Minuten
Polizeibeamte begleiten einen Afghanen auf dem Flughafen Leipzig-Halle in ein Charterflugzeug

Polizeibeamte begleiten einen Afghanen auf dem Flughafen Leipzig-Halle in ein Charterflugzeug

Das Leben in den Krisenländern kann schrecklich sein. Doch so schrecklich, dass niemand aus Deutschland dorthin zurückgeschickt werden kann? Der Angriff von Solingen hat der Diskussion neue Nahrung gegeben.

Der Anschlag in Solingen hat die Debatte um Sicherheit und Migration neu entfacht. Tatverdächtig ist ein 26-jähriger Syrer, der mutmaßlich aus islamistischen Motiven handelte. Nun ruft unter anderem CDU-Chef Friedrich Merz nach Möglichkeiten, abgelehnte Asylbewerber wieder nach Syrien und Afghanistan abzuschieben. Ist das möglich – und vertretbar?

Was tut die Bundesregierung in Sachen Abschiebung derzeit?

Schon nach dem tödlichen Messerangriff von Mannheim Ende Mai hatte Kanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt, die Abschiebung von Schwerstkriminellen und terroristischen Gefährdern in diese Länder wieder zu ermöglichen. Gefährder sind Menschen, denen die Sicherheitsbehörden schwerste politisch motivierte Straftaten bis hin zum Terroranschlag zutrauen. Verurteilte Straftäter sollen nach früheren Angaben vor einer möglichen Abschiebung einen Großteil ihrer Strafe hierzulande abgesessen haben. Überlegt wird in der Bundesregierung, ob Rückführungen über Nachbarstaaten möglich wären. Zumindest mit Usbekistan hat es schon Gespräche gegeben. Details will Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unter Verweis auf die Vertraulichkeit der Gespräche nicht nennen.

Woran hakt es bei der Umsetzung momentan?

Deutschland unterhält derzeit weder zu den Taliban-Machthabern in Kabul noch zur Regierung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad diplomatische Beziehungen. Unter anderem darauf verweist das Auswärtige Amt. Wenn deutsche Behörden Menschen – auch gegen deren Willen – in ein anderes Land abschieben, arbeiten sie mit dortigen Stellen zusammen. Das ist sowohl bei den islamistischen Taliban als auch bei Assad, dem Kriegsverbrechen zur Last gelegt werden, schwer vorstellbar. Zumal die Bundesregierung befürchtet, diesen Regimes durch eine mögliche Zusammenarbeit mehr Legitimität zu verleihen.

Wie ist die Rechtslage in Deutschland?

„Hier kommt es auf die Gefahreneinschätzung durch die zuständigen Behörden und Gerichte an“, sagt Rechtswissenschaftler Winfried Kluth vom Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR). „Bei diesem Thema wird seit einiger Zeit geprüft, ob es ausreicht, wenn einzelne Landesteile (zumindest für bestimmte Personengruppen) als sicher eingestuft werden können.“ Hier gehen die Einschätzungen jedoch auseinander. Das Auswärtige Amt sieht insbesondere in Syrien nach wie vor große Sicherheitsprobleme.

Die Rechtsprechung deutscher Gerichte ist nicht einheitlich. Für Aufsehen sorgte kürzlich ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster, das feststellte: „Für Zivilpersonen besteht in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts mehr.“ Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) argumentierte, in Einzelfällen seien Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan bereits möglich, wenn auch „nicht trivial“.

Wie ist die aktuelle Situation in Syrien?

In Syrien sind die großen Kämpfe aus den Jahren des Bürgerkriegs vorbei, eine Aussicht auf Frieden gibt es aber bis heute nicht. Der Konflikt begann 2011 mit Protesten gegen Präsident al-Assad. Dessen Regierung kontrolliert heute etwa zwei Drittel des faktisch geteilten Landes, unterstützt vom Iran und Russland. Die Türkei hält Gebiete im Norden besetzt. Den Nordosten kontrollieren arabische und kurdische Milizen, unterstützt von im Land stationierten US-Soldaten. Idlib im Nordwesten beherrscht die radikal-islamische HTS-Miliz. Mehr als 16 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Heute kann wohl kein Teil des Landes als sicher bezeichnet werden mit Blick auf eine Abschiebung von Flüchtlingen. Nach Einschätzung der EU und des UN-Flüchtlingshilfswerks ist die Lage in den von der Regierung kontrollierten Gebieten „nicht förderlich für eine sichere Rückkehr“. Demnach werden zuvor Geflüchtete für das Militär zwangsrekrutiert, willkürlich verhaftet, gefoltert oder sind körperlicher und sexueller Gewalt ausgesetzt. Auch andere De-facto-Behörden sowie bewaffnete Gruppen verüben laut UN schwere Menschenrechtsverletzungen an zurückkehrenden Flüchtlingen. Manche seien entführt worden oder verschwunden, anderen seien Geld und Besitztümer abgenommen worden.

Auch im kurdisch verwalteten Nordosten gibt es Vorwürfe, dass die als SDF bekannten Streitkräfte Menschen körperlich misshandeln, zu Unrecht festnehmen oder Kinder als Soldaten rekrutieren. In der Region wird auch ein Wiedererstarken der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) befürchtet, zumal hier Zehntausende IS-Mitglieder und deren Angehörige in Gefängnissen und Lagern sitzen. Die Sorge ist auch, dass die Türkei eine neue Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG beginnen könnte, die sie als Terrorgruppe einstuft.

Und wie sieht es derzeit in Afghanistan aus?

Seit August 2021 sind in Afghanistan wieder die islamistischen Taliban an der Macht, die vor allem wegen ihrer massiven Beschneidung von Frauenrechten in Kritik stehen. So dürfen Frauen und Mädchen keine Universitäten und Schulen ab der siebten Klasse mehr besuchen und nicht ohne männliche Begleitung reisen. Ein sogenanntes Tugend-Gesetz schreibt Frauen vor, sich auf der Straße vollständig zu verhüllen, und verbietet ihnen das öffentliche Singen oder Vorlesen. Bisher sind in Städten wie Kabul noch Einwohnerinnen ohne männliche Begleitung und Gesichtsschleier zu sehen, Frauenrechtlerinnen fürchten jedoch weitere Einschränkungen.

Männern schreibt das neue Tugend-Gesetz Bart- und Hosenlänge vor. Homosexualität und Musik sind ebenfalls verboten. Zudem gehen die Institutionen unter der Taliban-Herrschaft hart gegen Menschenrechtler, Demonstranten oder Journalisten vor, denen Verhaftung, Verschwinden oder Folter drohen.

Insgesamt ist es seit der Machtübernahme der Taliban zu einem deutlichen Rückgang der bewaffneten Auseinandersetzungen in Afghanistan gekommen, auch wenn es nach wie vor Anschläge gibt. Die meisten reklamiert die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) für sich, die mit den Taliban trotz ideologischer Nähe verfeindet ist. Vor allem Angehörige der schiitischen Minderheit geraten immer wieder ins Visier des IS, der Schiiten als Abtrünnige betrachtet. (dpa)