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Interview

Wirtschaftsweise Grimm zur Verschuldung
„Ohne Reformen ist das ein Weg in den Abgrund“

Lesezeit 4 Minuten
Friedrich Merz, Unions-Kanzlerkandidat und CDU-Bundesvorsitzender, steht an einem Fenster im Jakob-Kaiser-Haus bei weitere Sondierungsgespräche zwischen der Union und SPD.

Friedrich Merz, Unions-Kanzlerkandidat und CDU-Bundesvorsitzender, steht an einem Fenster im Jakob-Kaiser-Haus bei weitere Sondierungsgespräche zwischen der Union und SPD.

Veronika Grimm kritisiert Friedrich Merz' Schuldenpläne zur Verteidigung und Infrastruktur und warnt vor riskanter Verschuldung ohne Reformen.

Friedrich Merz will mit beispiellosen Schuldenprogrammen die Verteidigung stärken, der Ukraine helfen und die Infrastruktur ausbauen. Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm nennt das im Interview mit Tobias Schmidt eine „extrem riskante Wette“.

Frau Grimm, Friedrich Merz’ Pläne für Sondervermögen von bis zu einer Billion Euro klingen nach „Satire“, sagen Sie, aber woher soll das Geld für Verteidigung und Infrastruktur denn kommen?

Schauen Sie, wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse. Die Regierungen unter Angela Merkel haben die Friedensdividende aufgebraucht, etwa für Ausweitungen der Sozialausgaben. Und seitdem es die Friedensdividende nicht mehr gibt, nimmt jede neue Regierung einen großen Schluck aus der Pulle und vermeidet so eine Anpassung unserer Staatsausgaben an das Wachstumspotenzial. Wir stagnieren und es ist nicht klar, ob die Regierung es schafft, das Wachstum zurückzubringen. Der Schluck aus der Pulle wird immer größer. Die Sozialausgaben steigen immer stärker und werden aufgrund der Demografie ohnehin schwer zu bremsen sein. Es ist also eine extrem riskante Wette, den Reformbedarf durch Verschuldung immer weiter hinauszuschieben. Die Chancen, dass das gut geht, stehen schlecht. Wir brauchen in der Tat eine schnelle Steigerung des Verteidigungsbudgets. Aber ohne Reformen ist das ein Weg in den Abgrund.

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ARCHIV - 10.08.2022, Hessen, Wiesbaden: Die Wirtschaftsweise und Vorsitzende der Gaspreiskommission, Veronika Grimm, im Statistischem Bundesamt.

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm (Archivbild)

Selbst wehrhaft werden und das Wachstum ankurbeln braucht wohl Zeit, aber braucht die Ukraine nicht sehr schnell Geld, um sich weiter gegen Putin zu verteidigen?

Ja. Wir haben uns in eine dramatische Lage manövriert. Man hat zwar die Zeitenwende ausgerufen, aber sich drei Jahre lang nicht auf die Situation eingestellt, die sich lange abgezeichnet hat. Die Wahl von Donald Trump kam nicht überraschend. Seit Jahren mahnen wenige Ökonomen – auch ich – an, die Verteidigungsfähigkeit konsequent zu stärken. Ja, es braucht Geld. Aber jetzt einfach nur zusammenzurechnen, was es zusätzlich an Verteidigungsausgaben braucht und das dann als Schulden aufzunehmen, das geht nicht auf.

Wie könnte die gewaltige Rechnung anders aufgehen?

Zum einen müssen wir schnell beginnen, den Haushalt umzustrukturieren, sodass das Verteidigungsbudget dauerhaft aus dem Kernhaushalt gestemmt werden kann. Dazu fehlt jeder Anreiz, wenn jetzt ein hoher dreistelliger Milliardenbetrag zur Verfügung steht. Außerdem müssen viele Themen diskutiert werden, über die man in Deutschland nicht gerne spricht: Aufbau einer eigenen Waffenindustrie, vor allem auch in einem Hightech-Bereich. Wehrpflicht oder Dienstpflicht. Waffenexporte, Beteiligung an einem nuklearen Schutzschirm. Jetzt nur große Summen aufzurufen, ohne eine klare Strategie zu deren Verwendung zu haben, wird viele Probleme schaffen. Ein Wachstumseffekt ist kaum zu erwarten. Einen großen Teil des Geldes werden wir dann für Waffenimporte ausgeben, was das Wachstum andernorts ankurbelt, aber nicht bei uns.

Wenn Deutschland nicht schnell liefert, startet ein Kanzler Friedrich Merz dann nicht als Zwerg?

Es ist aus diesen Ankündigungen gar nicht absehbar, dass Deutschland liefert. Die Ampel hat viel Geld ausgegeben, aber uns in die Stagnation geführt. Wenn es jetzt eine mittlere dreistellige Milliardensumme zusätzlich gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man sich einrichtet. Reformen der sozialen Sicherungssysteme sind dann scheinbar nicht so dringlich. Die implizite Verschuldung und die explizite Verschuldung Deutschlands steigen weiter. Spätestens in vier Jahren stehen wir vor einer noch herausfordernden Lage. Natürlich ist es sinnvoll, jetzt das Verteidigungsbudget noch weiter aufzustocken. Aber dafür gäbe es auch Möglichkeiten. Zum Beispiel über die Notfallregel der Schuldenbremse.

Die Bundesbank schlägt eine Lockerung der Schuldenbremse vor: Der Bund sollte sich in Höhe von 1,4 statt 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verschulden dürfen, wenn die Schuldenquote unter 60 Prozent liegt ...

Wir sind nicht bei einem Schuldenstand von 60 Prozent. Und wenn wir so weitermachen, dann werden wir es auch so schnell nicht mehr sein. Daher nützt das nichts. Ich finde es außerdem bedenklich, dass die Bundesbank sich aktiv in die fiskalpolitische Debatte einmischt. Die Unabhängigkeit der Geldpolitik ist ein hohes Gut und sollte gewahrt werden. Sie ist wichtig für das Vertrauen der Konsumenten in die Preisstabilität.

Union und SPD wollen offenbar schon kommende Woche Fakten schaffen. Wäre das angesichts von Trumps Bruch mit Selenskyj nicht nachvollziehbar?

Ich halte es für nicht zielführend, mit dem alten Bundestag noch Sondervermögen immenser Höhe zu verabschieden. Für Verteidigung in einem plausiblen Rahmen kann man das vielleicht andenken. Aber man sollte sich bewusst sein, dass man damit den Wähler auch vor den Kopf stößt. Denn die Wähler haben den Gegnern höherer Verteidigungsausgaben eine Sperrminorität verschafft.

Halten Sie noch einen Kurswechsel für möglich?

Ich hoffe, dass hinter verschlossenen Türen auch darüber gesprochen wird, wie man das Wachstum wieder zurückbringt, sodass Deutschland auf einen nachhaltigen Pfad kommen kann. Der Mechanismus, dass wir immer mehr Schulden brauchen, um unseren Lebensstandard aufrechtzuerhalten, muss durchbrochen werden. Das geht auf Kosten kommender Generationen.