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Sozialverband warnt vor KürzungenRettung des Pflegesystems hat Priorität

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Die Vorstandsvorsitzende de Sozialverbands Deutschland (SoVD) Michaela Engelmeier

Die Vorstandsvorsitzende de Sozialverbands Deutschland (SoVD) Michaela Engelmeier (SPD) (Linda Thielen)

Michaela Engelmeier, Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD), warnt im Interview vor Kürzungen am Sozialstaat.

Die Wirtschaft wird aller Voraussicht nach das bestimmende Thema im Bundestagswahlkampf. Priorität müsste laut Engelmeier die Rettung des Pflegesystems haben. Die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete will den Eigenanteil deckeln und das aus dem Bundeshaushalt finanzieren.

Frau Engelmeier, was sind Ihre Erwartungen an die nächste Regierung?

Ich bin bestürzt darüber, dass das Soziale im CDU-Wahlprogramm eigentlich keine Rolle spielt. Ich erwarte von jeder Regierung nach der Wahl im Februar, dass sie sich um die sozial Benachteiligten in unserer Gesellschaft kümmert. Es sind stürmische Zeiten, besonders für ärmere Menschen. Es war beschämend, dass es der Ampel-Koalition nicht gelungen ist, die Kindergrundsicherung einzuführen. Jedes fünfte Kind in unserem Land ist armutsgefährdet. Es gibt vieles zu reparieren.

In diesem Wahlkampf wird aber die Wirtschaft das entscheidende Thema sein, ohne die der Sozialstaat nicht finanzierbar ist.

Natürlich ist es wichtig, dass die Wirtschaft wieder läuft. Wir dürfen trotzdem nicht die Axt an den Sozialstaat anlegen. Der soziale Frieden ist in Gefahr. Der Sozialstaat muss nicht nur erhalten, sondern auch gestärkt werden.

Was deutet denn darauf hin, dass die Axt angelegt wird?

Die Union will das Bürgergeld abschaffen, und das Rentenpaket der Ampel-Koalition mit der so wichtigen unteren Haltelinie von 48 Prozent beim Rentenniveau wurde nicht mehr verabschiedet. Jetzt droht das Rentenniveau weiter zu sinken, was de facto eine Rentenkürzung bedeutet. Das darf nicht passieren.

Die Union will beim Bürgergeld, dass die, die arbeiten können, auch arbeiten. Was ist daran verwerflich?

Die meisten arbeitsfähigen Bürgergeldbezieher wollen wieder in Arbeit kommen. Die Union verschweigt bewusst, dass viele im Bürgergeld nicht arbeiten können, und leistet einer unsäglichen und populistisch geführten Neiddebatte Vorschub. Mehr als 20 Prozent der Menschen im Bürgergeld-Bezug arbeiten, können davon aber nicht leben und müssen deshalb mit Bürgergeld aufstocken.

Darüber hinaus werden weniger als drei Prozent der Bürgergeldempfänger sanktioniert, wovon wiederum nur ein sehr kleiner Teil eine Arbeitsaufnahme verweigert. Wir reden hier von gerade einmal rund 20000 Menschen. Es ist doch eine Illusion zu glauben, man könnte an dieser Stelle so viel Geld einsparen, dass es für Milliarden-Investitionen in Infrastruktur und Bildung reicht.

Die Sozialabgaben sind zuletzt bereits deutlich gestiegen. Kann man hier immer noch eine Schippe drauflegen?

Es gibt einiges, was mit Priorität angegangen werden muss. Die nächste Regierung muss das Pflegesystem retten. Es steht vor dem Kollaps und wurde sehenden Auges gegen die Wand gefahren. Pflegebedürftige müssen in manchen Bundesländern über 3000 Euro pro Monat für einen Pflegeplatz zuzahlen. Die Angst, im Alter zum Pflegefall und dann zum Sozialfall zu werden, belastet viele ältere Menschen. Wir brauchen endlich eine Pflegevollversicherung, die die Kosten wirklich deckt.

Wie soll das angesichts des hohen Investitionsbedarfs finanziert werden?

Das können nicht die Beitragszahler allein stemmen. Das muss gerecht aus Steuermitteln finanziert werden. Ich bin überzeugt, dass es ein Fehler ist, in Krisenzeiten zu sparen. Die neue Regierung müsste zuerst die Schuldenbremse reformieren. Aber wir brauchen auch ein gerechteres Steuersystem. Die Vermögensteuer muss wieder eingeführt und der Spitzensteuersatz erhöht werden.

Es gilt als wahrscheinlich, dass die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse reformiert wird, um Investitionen zu ermöglichen, aber nicht, um den Sozialstaat zu finanzieren. Eine politische Mehrheit gibt es für Ihre Vorschläge nicht...

Deshalb sind sie trotzdem richtig! Die Kosten der Pflege sind weder den Angehörigen noch den Rentnern in dieser Höhe zuzumuten.

Haben Sie den Eindruck, dass die Politik Sie hört?

Da bin ich sogar sicher. Der SoVD ist regelmäßig durch seine Referentinnen und Referenten bei Anhörungen und Stellungnahmen direkt an Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Außerdem stehe ich im regelmäßigen Austausch mit allen demokratischen Parteien, Fraktionen und deren Abgeordneten, um den Menschen, die im politischen Diskurs zu wenig gehört werden, eine Stimme zu geben. Darüber hinaus werden wir die neue Regierung zusammen mit allen großen Sozialverbänden nach der Wahl zu einem Sozialgipfel einladen. Alles muss auf den Tisch. Die Systeme sind chronisch unterfinanziert. So kann es nicht weitergehen.