AboAbonnieren

„Riesige Spekulationsgewinne“Warum auch die Strompreise derzeit explodieren

Lesezeit 4 Minuten
Stromleitung 290822

Stromleitungen vor einem Heizkraftwerk in Hamburg 

Berlin – Mit den ungebremst steigenden Energiepreisen und den dadurch wachsenden Belastungen für Verbraucher und Industrie werden Forderungen nach einer raschen Reform des Strommarktes lauter. Finanzminister Christian Lindner mahnte, die Bundesregierung müsse sich mit „größter Dringlichkeit“ den Strompreisen widmen. Sonst werde die Inflation immer stärker durch eine Stromkrise angetrieben.

Auch der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil sprach sich für „ein schnelles und konsequentes Einschreiten des Staates“ aus. Der Mittelstand fordert einen Schutzschirm für Unternehmen.

Hintergrund der Forderungen sind auch die aktuellen Regeln der Strombörse. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) will mit einer grundlegenden Reform des Strommarkts Preise für Verbraucher und Industrie dämpfen. Angestrebt wird, die Entwicklung der Endkundenpreise für Strom vom steigenden Gaspreis zu entkoppeln.

Strommarkt: Weil spricht von „Spekulationsgewinnen“

Weil verwies darauf, dass bei Strom - anders als beim Gas - die verfügbare Energie mit Ausnahme außergewöhnlich hoher Exporte nach Frankreich nicht geringer sei als in den Vorjahren. „Allem Anschein nach handelt es sich deswegen vor allem auch um riesige Spekulationsgewinne, die derzeit eingefahren werden“, sagte der SPD-Politiker. Andere Stromanbieter profitierten zudem von dieser Situation, wie zum Beispiel die Produzenten erneuerbarer Energien. Ohne zusätzliche Leistung erhöhten sich deren Gewinne deutlich.

Auch Lindner kritisierte stark gestiegene Gewinne der Betreiber von Windrädern, Solaranlagen und Kohlekraftwerken: „Am Strommarkt hat die Politik einen Profit-Autopiloten eingerichtet“, sagte der FDP-Chef der „Bild am Sonntag“. Auf Grund der geltenden Regeln würden Produzenten von Solar-, Wind- oder Kohlestrom automatisch so bezahlt, als hätten sie teures Gas gekauft: „Die Gewinne steigen zu Lasten der Verbraucher Milliarde um Milliarde.“

Robert Habecks Ministerium: Reform des Strommarktes muss mit europäischen Partnern abgestimmt werden

Weil zufolge passen die Regeln der Strombörse nicht für die aktuelle Lage. Nicht die günstigsten Anbieter bestimmten den Preis, sondern die höchsten akzeptierten Angebote („Merit-Order“). Wenn eine kurzfristige Änderung wegen der europaweiten Diskussion nicht möglich sei, kommen aus Sicht von Weil auch ein Aussetzen des Stromhandels und eine vorübergehende staatliche Preisregulierung in Betracht.

Das könnte Sie auch interessieren:

Habeck will mit der angestrebten Strommarkt-Reform nach Angaben seines Ministeriums erreichen, dass Kunden auf Ihrer Stromrechnung stärker von den günstigen erneuerbaren Energien profitieren. Dafür sollen die entstehenden Übergewinneffekte im Strommarkt, die durch die sogenannte Merit-Order für Kraftwerke mit sehr geringen Produktionskosten entstehen, an Endkunden weitergegeben werden.

Die Funktionsfähigkeit des europäischen Strommarkts sowie die sichere Stromversorgung sollen jedoch gewährleistet bleiben, wie das Ministerium betont. Die Preisbildung auf Basis der Grenzkosten im europäischen Großhandelsmarkt selbst solle nicht geändert werden. Die „Merit-Order“ bleibe, aber die problematischen Effekte würden geändert. Eine solche Reform sei aber komplex, auch müssten die europäischen Partner eingebunden werden. Kurzfristig richte sich der Fokus daher weiter auf eine „Übergewinnsteuer“ sowie auf zeitnahe Entlastungen für Verbraucher und Hilfsprogramme für die Wirtschaft.

Strommarkt: So entstehen die hohen Preise

Als Merit-Order wird die Einsatzreihenfolge der an der Strombörse anbietenden Kraftwerke bezeichnet. Kraftwerke, die billig Strom produzieren, werden zuerst herangezogen, um die Nachfrage zu decken. Das sind etwa Windkraftanlagen. Am Ende richtet sich der Preis aber nach dem zuletzt geschalteten und somit teuersten Kraftwerk, um die Nachfrage zu decken - derzeit sind dies wegen der hohen Gaspreise Gaskraftwerke. Dadurch sind auch die Strompreise deutlich gestiegen.

Strommarkt Grafik

Der Mittelstand hält analog zur Corona-Pandemie einen Härtefall-Fonds für Unternehmen für notwendig, die besonders vom Energiepreis gebeutelt und international nicht mehr wettbewerbsfähig seien. „Die Verdopplung bis Verdreifachung der Energiepreise hält auch die stärkste Volkswirtschaft nicht aus“, sagte der Bundesgeschäftsführer des Bundesverbands Mittelständische Wirtschaft, Markus Jerger. Viele Betriebe könnten steigende Energiepreise nicht an Kunden weitergeben. Die Stromsteuer müsse auf das europäisch zulässige Mindestmaß sinken. Die Mehrwertsteuer sollte wie beim Gas auch beim Strom von 19 auf 7 Prozent gesenkt werden. Auch sei ein Industriestrompreistarif nötig.

Der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks verwies im Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) darauf, dass eine „erschreckend hohe Zahl von Betrieben insbesondere in der Industrie“ gezwungen sei, auf die hohen Energiepreise mit Drosselungen der Produktion oder sogar Stilllegungen zu reagieren. Viele Unternehmen könnten verschwinden. Vielfach würden Aufträge dauerhaft von internationalen Wettbewerbern an Standorten mit niedrigeren Energiekosten übernommen. „Damit nicht noch mehr Industriebetriebe Produktion aufgeben müssen, sollten die bislang extrem eng gefassten Notfallzahlungen dringend verlängert und ausgeweitet werden.“

Strompreis verschlechtert Lage für Privathaushalte

Der Energiepreisanstieg wird aus Sicht der Wirtschaftsauskunftei Creditreform auch die wirtschaftliche Lage für viele Privathaushalte verschlechtern. Creditreform-Ökonom Patrik-Ludwig Hantzsch sagte dem „Handelsblatt“: „Die Zusatzbelastungen sind jetzt schon gravierend.“ Die steigende Inflation werde die Überschuldungslage verschärfen.

Die Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, Gitta Connemann, kritisierte, Habeck kündige vollmundig eine Reform an und verspreche Entlastung. „Aber sein Vorschlag bedeutet am Ende nichts anderes als eine verdeckte Übergewinnsteuer.“ Nötig sei aber eine Strategie für Energiesicherung. Dazu gehörten der weitere Betrieb der Kernkraftwerke, die Aufhebung des Produktionsdeckels bei Biogas und der konsequente Ausbau erneuerbarer Energien. (dpa)