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Zwischen Psychologie und PoltereiNach welchem Schema Tarifverhandlungen ablaufen

Lesezeit 4 Minuten
Nancy Faeser (r, SPD), Bundesinnenministerin, und Karin Welge, Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, sitzen beim Auftakt der 4. Runde der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen am Verhandlungstisch. (Archivbild)

Nancy Faeser (r, SPD), Bundesinnenministerin, und Karin Welge, Präsidentin der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände, sitzen beim Auftakt der 4. Runde der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen am Verhandlungstisch. (Archivbild)

Fordern, verhandeln, streiken, schlichten: Tarifverhandlungen verlaufen nach einem festen Muster. Taktik und psychologische Feinheiten sind dabei oft entscheidend.

Züge fallen aus, Kitas bleiben geschlossen, der Müll bleibt liegen: Immer wieder beeinträchtigen Streiks den Alltag in Deutschland. Doch was nach außen schon mal etwas chaotisch wirken mag, ist ein eingespieltes Ritual. Denn im Grunde verlaufen fast alle Tarifverhandlungen nach einem ähnlichen Muster.

Der Auftakt jeder Tarifrunde ist die Aufstellung von Forderungen, die von den Gewerkschaftsmitgliedern in den Betrieben zusammen mit der Kündigung des bestehenden Tarifvertrages beschlossen werden. Anschließend werden Kündigungs- und Forderungsschreiben dem Arbeitgeber zugestellt.

Die Verhandlung kann damit starten: Gewerkschaft und Arbeitgeberseite setzen sich an den Verhandlungstisch und versuchen, sich auf einen neuen Tarifvertrag zu einigen – meistens beginnen die Verhandlungen schon, ehe der Tarifvertrag infolge der Kündigung endet.

Das erste Angebot wird üblicherweise abgelehnt

Nicht selten werden die Tarifpartner bereits vorab aktiv und versuchen, ihre Verhandlungspositionen durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit zu verbessern. Ebenso gilt: Gewerkschaften lehnen in der Regel das erste Angebot der Arbeitgeber – genauso schroff – ab, wie zuvor ihre Forderungen zurückgewiesen wurden.

Überhaupt sind Taktik und psychologische Finesse in Tarifverhandlungen entscheidend. „Im Vorfeld jeder Tarifverhandlung legt sich jede Seite eine Verhandlungsstrategie zurecht, mit der sie in der Verhandlung dann die verschiedenen Sichtweisen und Schmerzgrenzen des jeweils anderen abklopft. Das gehört zum Prozedere dazu“, sagt Sandra Vogel vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW).

Aus psychologischer Sicht richtig interessant werde es, wenn es zum ersten Treffen kommt, sagt jemand, der schon an vielen Tarifverhandlungen und Schlichtungen in verschiedenen Branchen beteiligt war und anonym bleiben will. „Die Spieleröffnung ist wichtig. Sprich, ob jemand beispielsweise nur die eigene Sichtweise wiedergibt oder direkt zu Beginn schon Signale setzt, dass er die Interessen der anderen Seite versteht und respektiert.“ Sind die Parteien nur darauf bedacht, ihre eigenen Interessen mit aller Macht durchzusetzen, sei eine Eskalation der Gespräche vorprogrammiert.

Die Eskalation im öffentlichen Dienst ist höher

In einer Studie des IW wurde untersucht, wie sehr Tarifrunden in einzelnen Branchen eskalieren und was dabei an Lohnerhöhungen herauskommt. Dabei zeigt sich: Für ein Prozent Lohnerhöhung eskalieren im öffentlichen Dienst Tarifkonflikte viel stärker als in anderen Branchen, wie beispielsweise der Chemieindustrie. „Es sind erhebliche Interessen im Spiel, selbstredend, dass es da auch mal poltert“, sagt der anonyme Experte. „Das ist keine Veranstaltung wie sonntags Kaffeetrinken bei den Großeltern. Es wird schon bewusst versucht, die andere Seite zu verunsichern und aus der Bahn zu werfen, um die eigenen Interessen durchzusetzen – sei es mit Sprüchen oder anderen Taktiken.“

Und trotzdem: Dass Tarifpartner den Lohn autonom miteinander verhandeln, hat sich in Deutschland zu einem gut funktionierenden System etabliert – vor allem im internationalen Vergleich, sagt Vogel vom IW. „In vielen Branchen geht das recht geräuschlos über die Bühne, trotz harter Auseinandersetzung. Am Ende gibt es eine Lösung.“

Einen Punkt aber sieht die Expertin problematisch: „Inzwischen dauern Ausstände wie zuletzt bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst nicht nur Stunden, sondern Tage. Damit haben die Warnstreiks ein Ausmaß angenommen, das die Frage nach ihrer Verhältnismäßigkeit aufwirft.“ Denn damit sei die Grenze zum unbefristeten Erzwingungsstreik überschritten, was eigentlich das letzte Mittel und die schärfste Waffe der Gewerkschaften in einem Tarifkonflikt ist.„Hinzu kommt: Die Motivlage für Streiks ist nicht immer klar. Mitunter wird ein Streik inzwischen ganz gezielt dazu genutzt, um die Mitgliederbilanz aufzupolieren – der Verdi-Chef macht ja gar keinen Hehl daraus“, so Vogel. Dennoch würden unbefristete Streiks nie leichtfertig angezettelt. „Das wäre auch wirtschaftlich unsinnig, schließlich zahlen Gewerkschaften ihren Mitgliedern Streikgeld.“

Ist die Situation verfahren und bringen Streiks die beiden Parteien nicht näher an einen Kompromiss, so gibt es als letzte Option die Schlichtung. Voraussetzung dafür ist, dass mindestens eine der beiden Seiten die Verhandlungen für gescheitert erklärt. In der Regel bestimmen beide Seiten einen Schlichter, meist einen Arbeitsrechtler oder einen nicht mehr aktiven Politiker. „Die Erfahrung zeigt, dass keine Seite alles bekommt, was sie fordert. Das haben Verhandlungen eben an sich“, sagt IW-Expertin Sandra Vogel. Dennoch sollten beide Parteien am Ende vom Verhandlungstisch zufrieden aufstehen können. „Alles andere macht auch keinen Sinn.“