AboAbonnieren

Amprion in BrauweilerWomit Experten in Sachen Stromversorgung im Winter rechnen

Lesezeit 6 Minuten
Mitarbeiter arbeiten in Zentrale der Hauptschaltleitung des Übertragungsnetzbetreibers Amprion in Brauweiler bei Pulheim.

Die Zentrale der Hauptschaltleitung des Übertragungsnetzbetreibers Amprion in Brauweiler bei Pulheim

Amprion kontrolliert in Brauweiler das Stromnetz von Nordeuropa. Hier kann man hautnah miterleben, wie verhindert werden soll, dass im Winter die Lichter in Deutschland ausgehen.

Pulheim. Europa liegt auf der Seite. Links Dänemark, rechts Italien, oben Tschechien, unten die Niederlande. Die Himmelsrichtungen sind zweitrangig auf der größten Monitorwand Europas. Nur die Null muss stehen in der Amprion-Hauptschaltleitung – immer muss genauso viel Strom ins Netz fließen, wie in dieser Sekunde verbraucht wird. Ein nach Schule klingender Gong ertönt, nicht das Signal zur Pause, sondern für ein Problem. Ein Mitarbeiter greift zum Hörer. Rechts, also im Süden, blinkt etwas rot, aber nur für Sekunden. Dann ist wieder alles im grünen Bereich.

In seiner gigantischen Echtzeit-Systemwarte überwacht der Dortmunder Netzbetreiber nicht nur sein eigenes Leitungsgeflecht von der Nordsee bis zum Bodensee, das senkrecht nicht auf den Bildschirm gepasst hätte. Der ist so breit wie ein Handballfeld. Von hier aus kontrollieren die Netzingenieure auch die Stromautobahnen weiter Teile Nordeuropas – denn eine Störung etwa in Belgien würde in kürzester Zeit in Deutschland ankommen.

Wer wissen will, wer wie verhindert, dass im Winter die Lichter ausgehen, der muss nach Brauweiler fahren, einen Ortsteil von Pulheim bei Köln. Draußen vor der Pforte deutet nichts auf die immense Bedeutung dieser Anlage hin. Kritische Infrastruktur fällt nicht gerne auf. Unübersehbar wird angebaut – Amprion braucht mehr Platz und mehr als seine 2500 Beschäftigten, um seine Wächterrolle auszufüllen und die Netze auszubauen.

Zwei Rechenzentren prüfen Zehntausende Schaltgeräte

Die Energiewende macht es komplizierter, das Netz stabil zu halten. Wenn immer mehr Strom im Norden erzeugt wird, aber im Süden und Westen die größten Industrieverbraucher sitzen, gibt es viel auszugleichen in Brauweiler. Deshalb haben sie auch mit künstlicher Intelligenz aufgerüstet und 2021 ihre neue Hauptschaltleitung in Betrieb genommen. Ohne es zu ahnen, gerade rechtzeitig für diese Ausnahmelage. Zwei Rechenzentren prüfen alle drei Sekunden Zehntausende Schaltgeräte und die Stromflüsse in Tausenden Leitungen.

Drinnen geht es unaufgeregt, aber geschäftig zu. Grüne (220 Kilovolt) und rote Linien (380kv) markieren die Höchstspannungsleitungen, kleine Symbole die Kraftwerke, leuchtende Punkte die Schaltungen. Ein Braunkohlekraftwerk in Neurath speist gerade Strom in die Autobahn gen Süden, der Nachbarblock versorgt das Ruhrgebiet. Aktuell sind rund 16 Gigawatt Solarstrom im Netz und acht GW Windstrom. Exakt so viel, wie die Kollegen nebenan am Vortag prognostiziert haben. Entscheidend, um zu wissen, wie viel konventioneller Strom heute gebraucht wird.

Eine Europakarte zeigt das große Ganze: Gerade wird in Italien mehr Strom gezogen als erzeugt, in Polen auch. Die Niederlande haben dagegen einiges abzugeben – passt insgesamt. Italien wird vom Schweizer Netzbetreiber Swissgrid kontrolliert, der die Netze in Südeuropa koordiniert. Trotzdem blickt Amprion immer auch auf ganz Europa. Allein schon um sehen zu können, warum in den Küchen die Backofenuhren mal wieder nachgehen. Weil diese anders als die meisten Uhren ihren Sekundentakt aus der Steckdose erhalten, machen sich minimale Frequenzabfälle im europäischen Stromnetz bemerkbar: Fällt sie unter 50 Hertz, gehen die Uhren nach, bei über 50 vor. Aktuell zeigt die Synchronzeitüberwachung auf dem Riesen-Monitor an: Europas Stromnetz hat 7,79 Sekunden Verspätung – Italien sei Dank.

Wer zuweilen fragt, warum wir eigentlich den Franzosen mit ihren verrosteten Atomkraftwerken mit unserem Strom aushelfen, sieht hier die Antwort auf einen Blick: Es gibt kein deutsches Stromnetz, sondern ein europäisches. Egal, wo Strom ins Netz gespeist wird: Er fließt in ein großes Flussgeflecht aus Elektrizität – und von allein dorthin, wo Strom verbraucht wird.

Die Strömung ergibt sich daraus, wo gerade viel und wo wenig abgezapft wird, welche Schleusen geöffnet oder geschlossen sind. Aufgabe von Amprion und Swissgrid ist es, den Flusspegel europaweit immer konstant zu halten, in jeder Sekunde. Die Schweizer betonen: Engpässe können leichter ausgeglichen werden als früher – das europaweite Zusammenwachsen habe die Netze sicherer gemacht, nicht anfälliger.

Bei sinkenden Temperaturen wird Frankreich zum Problem

Frankreich exportiert an diesem Mittag Strom nach Deutschland. Europas Sorgenkind, das nur etwa die Hälfte seiner 56 AKW in Betrieb hat, freut sich über die Herbstsonne – bei 25 Grad bleiben die Heizungen, die in Frankreich meist mit Strom laufen, aus. Doch wenn es kälter wird, dreht sich die Lage unweigerlich: Ab 15 Grad Celsius, so die harte Faustregel der Netzexperten, braucht Frankreich für jedes Grad, das es kälter wird, zwei große Atomkraftblöcke (2,4 GW). Weil Frankreich anders als in früheren Wintern zu wenig statt zu viel Strom für sich selbst produziert, wird auch deutscher Strom – ganz von selbst – nach Frankreich fließen. Das macht die Lage im Winter „anspruchsvoll“, heißt es bei Amprion.


Ausbau der Stromtrassen stockt

Damit die Überproduktion aus dem Norden nicht ins Leere geht, sondern den Süden mitversorgt, müssen die Stromautobahnen durch Deutschland dringend ausgebaut werden. Die aktuelle Energiekrise fällt in den Umbau des deutschen Stromnetzes, der reichlich Verspätung hat – auch wegen des Widerstands in Bayern gegen die dafür benötigten Stromtrassen. Die Nord-Süd-Trassen sollten eigentlich pünktlich zum geplanten endgültigen Atomausstieg – also Ende dieses Jahres – fertig sein. Tatsächlich werden sie aber wohl frühestens in sechs Jahren ans Netz gehen. Deutschland hat keinen Mangel an Strom, sondern einen Mangel an Leitungen. (sts)


Bei der Frage, ob in diesem Winter ein Blackout droht, rollen trotzdem ein paar Augen. Die offizielle Antwort einer Amprion-Sprecherin lautet: „Wir rechnen nicht mit einem Blackout. Unter einem Blackout verstehen wir den unkontrollierten flächendeckenden Zusammenbruch des europäischen Stromsystems.“ Die Frauen und Männer in der Warte wissen, dass immer etwas schiefgehen kann, das zu beheben, ist für sie Alltag. Sie wissen aber auch, was im Ernstfall zu tun ist.

Wenn irgendwo in Deutschland oder den Nachbarländern zu wenig Strom durchs Netz fließt, deshalb die Frequenz, der Pulsschlag des Stromnetzes, zu weit absinkt, müssen Kraftwerke ihre Leistung erhöhen. Deshalb wird gerade ein Kohlekraftwerk nach dem anderen aus der Reserve geholt, deshalb die drei verbliebenen AKW bis zum Frühjahr weiterbetrieben. Einen Mangel an Strom auszugleichen, ist aber leichter als einen Überschuss. Die meisten Blackouts weltweit resultierten aus einer Überlastung des Netzes, nicht aus Spannungsverlust.

Im Extremfall wird eine Straße vom Stromnetz genommen

Und wenn es nichts mehr zum Hochfahren gibt und die vielen anderen Ausgleichstechniken, die den Ingenieuren hier zur Verfügung stehen, erschöpft sind? Dann muss im Extremfall der Stromverbrauch abrupt gesenkt werden – und zwar dort, wo gerade zu wenig eingespeist wird. Das kann eine Straße sein oder ein Viertel oder ein Industriebetrieb – immer nur für wenige Stunden und in der Regel nachts. Wenn die Stromlücke länger dauert, werden andere Wohnblöcke oder Betriebe abgeklemmt, damit niemand länger im Dunkeln sitzt. Soweit der Extremfall. Als „Ultima Ratio“ könne man Lastabschaltungen nicht ausschließen, sagt die Unternehmenssprecherin, das sei aber „nicht sehr wahrscheinlich. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist dieses Instrument nicht mehr zum Einsatz gekommen“.

Doch der dutzendfache Ausfall französischer Atomkraftwerke und der Mangel an Reservekraftwerken in Bayern und Baden-Württemberg lässt die Netzwächter alles andere als sorgenfrei auf den Winter blicken. Die Herausforderung wird sein, die Netze im Norden nicht zu überlasten und im Süden auszulasten. Quer durch Deutschland verläuft vom Nordwesten zum Südosten eine diagonale Grenze: Darüber wird mehr Strom erzeugt als verbraucht, darunter ist es umgekehrt.

Deswegen wird in Brauweiler in diesem Winter wohl des Öfteren entschieden werden müssen, Meereswindparks in der Nordsee und Braunkohlekraftwerke in der Lausitz herunterzufahren. Weil vor allem in Bayern zu wenige Kohlekraftwerke stehen und gleichzeitig Strom nach Frankreich abfließen wird, braucht der Freistaat dann Strom aus Österreich und der Schweiz.