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Zehn Jahre danachÜberlebende sprechen über den Tsunami 2004

Lesezeit 4 Minuten

Die eigentlich unfassbare Tragödie: Leichen am Strand nach dem Tsunami von 2004

Düsseldorf – Ben Atréu Flegel war 15, als die Welle ihn erfasste. Er gewann einen grauenvollen Überlebenskampf. Flegel machte Ferien mit seinen Großeltern in Khao Lak in Thailand. Als sich am Morgen des Zweiten Weihnachtstages des Jahres 2004 am Horizont die tödliche Tsunami-Welle auftürmte, holte Flegel ein Handtuch aus dem Bungalow. Dort begann sein Kampf um Leben oder Tod.

Fast zehn Jahre sind seit dem verheerenden Tsunami an den Küsten rund um den Indischen Ozean vergangen. Nicht viele Menschen, die damals überlebt haben oder ihre Freunde, Ehepartner, Kinder, Eltern verloren, wollen oder können über das Furchtbare reden. Flegel will es. Aber der heute 25-Jährige macht zugleich klar, dass das, was er erlebt hat, eigentlich unsagbar ist.

Wie einen Film spult der junge Mann die Ereignisse ab: Die erste Welle schlug ihn gegen die Wand, Möbel schwammen auf ihn zu. „Das Wasser stieg bis zum Hals, ich holte Luft und tauchte durch die Möbel und Tresore, dann kam die zweite Welle.“ Die Welle schleuderte ihn ins Badezimmer. Irgendwann sei das Wasser gesunken. Er hatte ein großes Loch im Knie, ein Stück Fleisch vom Fuß war abgerissen.

Rund 50 Überlebende aus dem Hotel machten sich ins Landesinnere auf, Flegels Großeltern waren fort. Er sollte sie nie wiedersehen. Der Junge schloss sich der Gruppe an, doch er konnte sich nicht durch den hüfthohen Schlamm kämpfen. „Ich schrie nach Hilfe, einige drehten sich um, der Pulk ging weiter.“ Ein Mann rief ihm zu: „Help yourself“ (Hilf dir selber).

Irgendwie schaffte es Flegel trotz hohen Blutverlusts auf einem Lastwagen in ein Krankenhaus. Er wurde nach Bangkok geflogen, konnte seine Eltern anrufen und war bereits wenige Tage nach der Katastrophe wieder in Deutschland.

„Als ich eingeklemmt war und das Wasser mir bis zum Hals stand, schrie mein ganzer Körper: Du willst leben!“, sagt Flegel. „Dieser Drive hat mich nicht verlassen.“ Er habe heute „weder Traumata noch Alpträume“. Und doch merkt man, welch große Rolle der Tsunami für sein weiteres Leben spielt. Sprache wird das zentrale Thema für Flegel. Er studierte Literatur und Philosophie, arbeitet an literarischen Projekten. „Wie kann ich diese Geschichte erzählen?“ Flegel wird am 10. Jahrestag des Tsunamis nach Khao Lak reisen und bei einer von der Evangelischen Notfallseelsorge und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) organisierten Gedenkfeier reden. „Die stärkende Kraft des Erinnerns“, heißt sein Vortrag.

Das Ende eines romantischen Urlaubs

Adam, der Bruder von Agnieszka Brauner, kehrte 2004 nicht aus Khao Lak zurück. Die 38-jährige Frau erzählt, wie ihr damals 25-jähriger Bruder zum ersten Mal mit seiner Freundin Katja zusammen Urlaub machte. „Sie fanden, es war das Paradies. Alles war super.“ Am Tag der Katastrophe sollte das Paar vom Bus abgeholt werden und nach Hause fliegen. Agnieszka Brauner wurde von der SMS eines Freundes geweckt, der fragte, wo Adam sei. Sie habe sich keine Sorgen gemacht. „Er kann doch schwimmen.“

Doch Adams Handy war nicht mehr zu erreichen, monatelang versuchte die Familie vergeblich an Informationen zu gelangen. Im März 2005 wurde Katjas Leiche gefunden. Adams Eltern hätten weiter gehofft: „Vielleicht liegt er im Koma, ist auf einer Insel gestrandet oder hat sein Gedächtnis verloren“, sagt Brauner.

Erst als über ein Vermissten-Portal im Internet Leichenfotos auftauchten, wurde das Schreckliche zur Gewissheit. Drei „ganz schlimme Fotos“ habe sie von der Organisation erhalten, die die Opfer in den ersten Tagen fotografiert hatte, damit sie später identifiziert werden konnten.

Was Brauner damals nicht wusste: Bereits im März 2005 hatte das Bundeskriminalamt (BKA) durch Vergleich von DNA-Proben Adams Leiche identifiziert. Doch seine sterblichen Überreste konnten später nicht mehr im Kühlcontainer gefunden werden. Erst im November habe das BKA ihrer Familie die Nachricht überbracht. Auf dem Grab der Großmutter ließen die Eltern eine Gedenktafel für Adam aufstellen. Seine Schwester Agnieszka wird Weihnachten nicht nach Khao Lak reisen.